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"Arche" mit Erweiterungsbedarf

Regula Spalinger im Gespräch mit Tatjana Vischnjakova

Das pädagogische Konzept des orthodoxen Kinder- und Jugendzentrums „Arche“ in Kostroma hat für Russland Modellcharakter. Kinder und Jugendliche werden in ihren jeweiligen Talenten gefördert und lernen, Verantwortung zu übernehmen. Die „Arche“ zählt bereits jetzt mehr Interessierte, als sie in ihren Kursen aufnehmen kann. Daher sind Umbaumaßnahmen dringend erforderlich. Über diese und andere Herausforderungen hat Regula Spalinger mit Tatjana Vischnjakova, der stv. Leiterin der Administration der „Arche“, gesprochen.

G2W: Am 19. Juli 2015 hat das Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill, die „Arche“ besucht. Hat der Besuch des Patriarchen Ihrer Arbeit neue Impulse vermittelt?
Tatjana Vischnjakova:
Das orthodoxe Kinder- und Jugendzentrum „Arche“ ist eine der ältesten Einrichtungen in Russland, die sich der Bildung von Jugendlichen auf sozialer Grundlage widmet. Daher hat uns Patriarch Kirill vorgeschlagen, unsere Unterrichtsmethodik zu einer eigentlichen Lehrmethode auszuarbeiten, die eigenen Erfahrungen in Seminaren weiterzugeben und zu diesem Zweck ein geistlich orientiertes Ausbildungszentrum auf der Basis der „Arche“ zu gründen. Dazu wird bald in unserer Nachbarstadt Nerechta eine Konferenz stattfinden. Selbstverständlich stehen wir dabei erst am Anfang eines längeren Prozesses.

Was hat sich in den letzten Monaten noch ereignet?
2015 ist für uns ein entscheidendes Umbruchjahr: Das Gebäude der „Arche“ ging in diesem Jahr von der Stadtadministration in den Besitz der Eparchie Kostroma über. Die Eparchie übertrug die Besitzrechte anschließend unserem Leitungsorgan, der Wohltätigkeitsorganisation Orthodoxe Seraphimer Bruderschaft. So können wir endlich die dringend nötigen Renovierungsarbeiten in Angriff nehmen, da uns das Gebäude nun niemand mehr nehmen kann. Die Arbeiten an der Gemeindekirche haben wir bereits abgeschlossen, u. a. wurde eine Ventilation eingebaut und eine Feuertreppe errichtet. Am liebsten hätten wir auch sofort mit dem Umbau des seit 1956 beinahe unverändert gebliebenen „Arche“-Gebäudes begonnen. Doch übersteigen zwei zeitgleiche Umbaumaßnahmen unsere finanziellen Kräfte. Zumindest konnten wir die alten, maroden Wasserleitungen und die Kanalisation instand setzen. Die Erneuerung des jetzigen energieverschwendenden Heizsystems mussten wir dagegen auf später verschieben, da diese sehr kostspielig ist. Die Umbauarbeiten und ein bereits projektierter Anbau sind jedoch dringend geboten, da wir unsere Räume bereits jetzt bis zum Anschlag nutzen und leider in den letzten Jahren einer wachsenden Zahl von Kindern absagen mussten. Allein für den Kurs „Gestalten mit Ton“ haben sich in diesem Jahr 180 Kinder angemeldet – wir platzen sozusagen aus allen Nähten. Daher braucht es dringend den nächsten Schritt nach vorn.

Die „Arche“ bietet den Kindern und Jugendlichen ein reichhaltiges Kursprogramm an. Worauf können sich die Besucher im Schuljahr 2015/16 besonders freuen?
Neben den gestalterischen Kursen, dem Kinderchor und den Pfadfindergruppen unter der Leitung von Ilja Efremov möchte ich vor allem auf unsere Jahresfeste hinweisen: Zu den orthodoxen Weihnachten feiern wir am 7. Januar das „Christbaum-“ bzw. das „Jolka-Fest“. Momentan treffen wir die ersten Vorbereitungen dazu und gestalten das Programm: Die auftretenden Kindergruppen üben bereits, und unter Anleitung werden farbige Kostüme für die Theater- und Tanzaufführungen genäht. In diesem Jahr kamen insgesamt 1 500 Personen, Kinder mit ihren Eltern zu dem Fest. Aufgrund des großen Andrangs konnten wir leider nicht alle Kinder berücksichtigen, die am Fest teilnehmen wollten; daher hat uns Bischof Ferapont (Kaschin) von Kostroma und Galitsch für das kommende Weihnachtsfest mit der Aufgabe betraut, falls nötig, mehrere nachein­ander stattfindende „Jolka-Feste“ zu organisieren, so dass niemand abgewiesen werden muss.

Auch das Frühjahr hat sein eigenes Fest: Dann findet im oberen Stockwerk unseres Hauses die Osterausstellung mit Bildern und handwerklichen Kunstwerken, gestaltet von den Kleinsten bis zu den Jugendlichen, statt. Dabei wird die Ausstellung jedes Jahr reichhaltiger und interessanter. Im Sommer finden die Lager der Pfadfinder statt, während der Ball der Höhepunkt des Herbstes ist. In diesem Jahr findet der Herbstball, der auf Wunsch und Initiative unserer Jugendlichen entstanden ist, bereits zum fünften Mal statt. Gleichzeitig dürfen wir in diesem Jahr auch das zwanzigjährige Bestehen der „Arche“ feiern. Dazu kommt das Jubiläum der Pfadfinder, die 1995, wenige Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, ihre Tätigkeit im Gebiet Kostroma aufnehmen konnten. Wir haben uns entschieden, diese drei Feiern zu einem Fest am 1. November zusammenzulegen.

Welche Schwerpunkte gibt es bei den Pfadfindern?
Die Pfadfinder beschäftigen sich seit diesem Jahr mit einem neuen Bereich – der Ökologie. Sie fahren zu bestimmten Plätzen oder Seen der Umgebung und räumen dort auf. Zuerst war manchen Eltern unbehaglich zumute, dass ihre Kinder Zigarettenstummel, Flaschen, Gläser und Dosen auflesen würden. Aber nach einiger Zeit wich diese Zurückhaltung. Mittlerweile sind uns einige Eltern sogar dankbar: „Wissen Sie, mein Kind wird nun kein Abfall mehr draußen wegwerfen, es hilft sogar Weggeworfenes wegzutragen!“ Neben ihren üblichen Beschäftigungen wie Lager und sportlichen Aktivitäten haben die Pfadfinder nun einen See in der Nähe unter ihre Obhut genommen. In alten Chroniken trägt dieser den Namen „Heiliger See“, doch in den vergangenen Jahrzehnten verödete er zusehends und wurde mit Brettern und Abfall zugeschüttet. In diesem Sommer haben unsere Pfadfindergruppen ihn vollkommen gesäubert. Natürlich haben ihnen Erwachsene dabei geholfen, einer schwamm sogar im Taucheranzug zum Grund des Sees, um von dort den Unrat heraufzuholen. Mit Aktionen wie „Wir beleben den ‚Heiligen See‘ “ wächst bei den Kindern und Jugendlichen die Einsicht: Wir schützen die Natur, wir hinterlassen sie unseren Kindern einmal so, wie wir sie selbst antreffen wollen.

Im Team der „Arche“ arbeiten viele erfahrene Pädagogen. Können Sie uns Ihre Mitarbeiter ein wenig näher vorstellen?
Alle unsere Lehrkräfte haben ihre besonderen Fähigkeiten und Qualifikationen. Jede und jeder unterrichtet mit ihrer eigenen künstlerischen „Handschrift“ und individuell gestaltetem Programm. Von Anfang an dabei ist unser Kunstpädagoge Vjatscheslav Svjatez, der den Kindern hilft, ihre künstlerischen Talente zu entdecken. Unterstützt wird er von der Pädagogin Elena Semjonova, die den Malkurs von Kindern ab 3 Jahren bis ins Grundschulalter leitet. Ebenfalls fast seit Anbeginn dabei ist Tatjana Dobrova, die den „Kinderchor Arche“ gegründet hat. Unter ihrer professionellen Obhut lernt jedes Kind singen, selbst wenn ein Jahr zuvor noch der Eindruck bestand, dass es kein Musikgehör oder keine Singstimme hätte. Der Pfadfinderleiter Ilja Efremov ist vermutlich als Pfadfinder geboren worden, er ist mit Haut und Haar seiner Sache ergeben! Die Kinder spüren das und erleben in ihm eine Autorität, der sie mit Begeisterung folgen. Mit den Kleinsten beschäftigen sich Pfarrfrau Olga Strelbizkaja und Alla Krulizkaja im Frühförderungskurs. Und auch die Sonntagsschule ist mit drei Gruppen sehr gut besucht. Insgesamt sind an der „Arche“ neun pädagogische Fachkräfte tätig.

In die „Arche“ kommen besonders viele Kinder aus bedürftigen Familien. Weshalb ist das Jugendzentrum für sie ein besonders wichtiger Ort?
In den letzten Jahren sind bildende Freizeitkurse neben der Grundschule für Kinder in Russland immer populärer geworden. Das ist auf der einen Seite sicher positiv, denn es zeigt, dass man erkannt hat, dass für die harmonische Persönlichkeitsentwicklung des Kindes nicht nur Fächer wie Mathematik, Sprache und Geografie wichtig sind, sondern auch Musizieren, Malen, Tanzen und sportliche Aktivitäten. Doch in der Regel sind die Freizeitangebote teuer, vor allem Familien mit niedrigerem Einkommen, mit mehreren Kindern oder alleinerziehende Mütter können sich diese Preise nicht leisten. Wenn also die Kinder unbeaufsichtigt auf der Straße herumrennen, weil beide Eltern arbeiten müssen, wenn dazu noch das Problem der Jugendkriminalität kommt, so ist dies oft darauf zurückzuführen, dass sich die Eltern keine sinnvolle Freizeitbeschäftigung für ihre Kinder leisten können. Als die „Arche“ 1995 gegründet wurde, haben wir uns zum Ziel gesetzt, die Kinder von der Straße zu holen und einen Ort zu schaffen, wohin sie gehen, wo sie sich kreativ betätigen und echte Freunde finden können. Die Gruppen von Jugendlichen aus dem Bahnhofsviertel, die noch vor 15 Jahren vor dem „Arche“-Gebäude herumlungerten, sind heute verschwunden.

Wie wirkt sich die Wirtschaftskrise in Russland auf die Familien bzw. die Arbeit der „Arche“ aus?
Der Anstieg der Preise, der das Familienbudget belastet, ist bei uns nicht einmal das Hauptproblem. Viel gravierender ist, dass aufgrund der Wirtschaftskrise derzeit viele Firmen in Konkurs gehen und ihre Angestellten in großer Zahl entlassen. Oder die Angestellten werden in einen unbefristeten Urlaub ohne Lohnfortzahlung geschickt. Dies kann dann geschehen, wenn ein Unternehmen sich innerhalb eines langwierigen Insolvenzverfahrens befindet, während dessen zuerst die Hauptgläubiger und die staatlichen Ämter bedient werden müssen. Das bedeutet für uns, dass Kinder aus bedürftigen Familien, die bisher die „Arche“ besucht haben, diese weiterhin besuchen, doch gleichzeitig steigt die Zahl der neu hinzukommenden Bedürftigen. Und aufgrund unserer Platzprobleme können wir leider nicht alle Kinder aus solchen Familien aufnehmen.

Zudem bekommen wir die finanziellen Schwierigkeiten auch unmittelbar zu spüren, da die Spenden abnehmen. So kommen wir mit unserer sparsamen Haushaltführung, mit ermäßigten Saalmieten für uns als Wohltätigkeitsorganisation und der Unterstützung durch die Eparchie für bestimmte Anlässe gerade so über die Runden. Beim diesjährigen Umbau haben uns verschiedene Leute mit Freiwilligenarbeit oder gespendeten Baumaterialien geholfen. Umso wichtiger sind vor diesem Hintergrund die Unterstützung von G2W und die monatlichen Beiträge weniger örtlicher Privatspender und Unternehmer. Die treue Begleitung durch G2W ist das Fundament für unsere Arbeit.

Im Juli 2014 hat eine Gruppe Schweizer Jugendlicher unter der Leitung des Horgener Pfarrers Johannes Bardill eine Fahrradtour von Moskau nach Kostroma unternommen (s. RGOW 9/2014, S. 28–29). Gibt es noch Kontakte zwischen Schweizer und russischen Jugendlichen?
Von unserem Leiter der Pfadfinder, Ilja Efremov, weiß ich, dass sich einige unserer Pfadfinder nach wie vor über E-Mail etc. mit den Schweizer Jugendlichen austauschen. Einer der Schweizer Jugendlichen hat danach sogar angefangen, Russisch zu lernen. Die Veloreise der Mädchen und Jungen aus der Schweiz hat einen bleibenden Eindruck bei uns hinterlassen, so dass unser Kunstpädagoge Vjatscheslav Svjatez sogar einen eigenen Fahrradclub gegründet hat! Dieser versammelte anfangs 15 Mädchen und Jungen aus der Kleinstadt Nerechta, in diesem Jahr sind es bereits 20. Svjatez unternimmt mit den Jugendlichen thematische Routen in die nähere Umgebung, auf denen es immer etwas Interessantes zu besichtigen gibt. Sie sehen, Ihre Aktion hat bei uns einen tiefen Eindruck hinterlassen!

RGOW 10/2015, S. 28-29

Bild: Arche