Skip to main content

Jugendveloreise - mit Sack und Pack nach Kostroma

Regula Spalinger

In Zusammenarbeit mit dem Institut G2W hat die Evangelisch-Reformierte Kirchgemeinde Horgen eine Fahrradtour von Schweizer Jugendlichen nach Kostroma organisiert. Ziel der Reise war das Jugendzentrum „Arche“, das zu den Projektpartnern von G2W zählt. Während eines gemeinsamen Pfadfinderlagers konnten sich Schweizer und russische Jugendliche besser kennen lernen. Die Fahrräder wurden zum Abschied der „Arche“ geschenkt. Regula Spalinger, die Projektverantwortliche von G2W, die die Jugendlichen begleitet hat, berichtet von den Reiseeindrücken.

In der zweiten Julihälfte fand eine über mehrere Monate in gemeinsamer schweizerisch-russischer Planung entstandene Fahrradtour für Schweizer Jugendliche nach Moskau, Kostroma und St. Petersburg statt. Zusammen mit russischen Gleichaltrigen verbrachten die Jugendlichen eine abwechslungsreiche Lagerwoche in der Nähe von Kostroma. In einer Zeit, die unteranderem vom Russland-Ukraine-Konflikt geprägt ist, stand diese Begegnung über Landesgrenzen hinweg ganz im Zeichen des Aufeinander Zugehens. Doch wie kam es überhaupt zu dieser nicht gerade alltäglichen Reise?

Eine Idee nimmt Gestalt an
Ein Projektartikel zu unserer Partnerorganisation in Kostroma, dem Orthodoxen Jugendzentrum „Arche“, ließ Pfarrer Johannes Bardill von der Evangelisch-Reformierten Kirchgemeinde Horgen keine Ruhe. Überlegungen, Pläne entstanden. Er selbst hatte in den vergangenen Jahren mehrfach Jugendveloreisen für engagierte Jungen und Mädchen aus seiner Gemeinde in Europa geleitet. Durch Andalusien, die Tschechische Republik oder Ostungarn waren sie in der Vergangenheit geradelt. Letztes Jahr half eine Gruppe Jugendlicher gar auf einem Bauernhof in der Westukraine. Im Herbst 2013 wurde zum ersten Mal mit G2W die Idee einer Fahrradtour von Moskau nach Kostroma diskutiert. Die nächsten Schritte entwickelten sich darauf wie von selbst: bereits vor Weihnachten 2013 waren bis auf wenige Spätanmelder alle Teilnehmer beisammen, die auf die Sommerreise mitkommen wollten.

Eindrücklich war für mich, wie sich die Reiseorganisation über die nächsten Monate anließ: Ich habe schon in vielen Projektgruppen über Landesgrenzen hinweg gearbeitet, doch diesmal war es, als würde zwischen Horgen, Zürich, Kostroma und Moskau gemeinsam an einem farbenfrohen, kostbaren Teppich geknüpft. Die „Arche“ dachte für uns mit, und wir umgekehrt für sie, so dass wir alle auftretenden Hindernisse ohne größere Schwierigkeiten umschiffen konnten.

Wir erhalten Begleitung
Im Frühjahr 2014 bestieg Vater Gennadij, der Leiter der „Arche“ und vor seiner Weihe zum Priester Fernfahrer, kurzerhand den Kleinbus des Jugendzentrums, um die geplante Veloroute abzufahren. Erst zwei Tage später traf er wieder in Kostroma ein. Die von ihm ursprünglich vorgesehene Straße erwies sich als viel zu staubig und zu stark von Lastwagen und Autos befahren. So schwenkte er in Nebensträßchen ein und verirrte sich in den zentralrussischen Weiten, wie mir Pfarrfrau Tatjana, die Buchhalterin des Jugendzentrums, lachend am Telefon erzählt.

Doch eine Lösung ließ nicht lange auf sich warten. Die „Arche“ nahm umgehend mit dem Russian Cycle Touring Club Kontakt auf, einem Verein von Fahrradliebhabern in Moskau, der in den vergangenen Jahren immer wieder ausländische Gruppen über weniger befahrene Verbindungswege zu Städten am „Goldenen Ring“, dem historischen Kernland Russlands nordöstlich von Moskau, geführt hat. Kostroma ist die nördlichste Stadt am „Goldenen Ring“. Der einstige Kaufmannsort an der Mündung des Flusses Kostroma in die Wolga ist durch das Ipatios-Kloster, das u. a. als Wiege der Romanow-Dynastie im 16. Jahrhundert gilt, und durch seine schmucke Altstadt berühmt.

Bald war klar: Wir würden einen ortskundigen Vorfahrer, eine Art Velo-Guide, für unsere Gruppe erhalten, gleichzeitig würde uns ein PKW auf der 400 km langen Fahrradtour begleiten. Praktische Routenfragen konnten wir nun direkt mit dem Leiter des Moskauer Veloclubs besprechen. Zudem half uns der Veloclub beim Einkauf von 15 Fahrrädern in Moskau.

Fünf Tage durch die russischen Weiten
Am 13. Juli war es schließlich soweit: die zehn Jugendlichen und drei erwachsenen Begleiter inklusive des Leiters Johannes Bardill flogen nach Moskau. Dort übernachteten wir in einer einfachen Jugendherberge im Zentrum, wodurch die Sehenswürdigkeiten wie der Kreml und der Rote Platz zu Fuß erreichbar waren.

Nach zwei Tagen in Moskau und dem Besuch der Stadt Sergijev Possad mit ihrer alten Klosteranlage, die eben für die 700-Jahrfeier gerüstet wurde, starteten wir unsere Fahrradtour in Alexandrov, 100km nordöstlich von Moskau. Hier nahmen wir die Fahrräder in Empfang, die mit einem gemieteten Kleinlaster angeliefert wurden. Gleich zu Beginn wurden unsere Mechanikerkünste auf die Probe gestellt, denn als erstes mussten – unerwarteter Weise – Schutzbleche und Getränkeflaschen-Halter montiert werden. Die Mädchen entdeckten bald, dass es in der sommerlichen Mittagsschwüle kaum etwas Besseres zu trinken gab als einen kühlen Kwass, einen russischen, leicht gesäuerten Brottrunk, der am ehesten an sauren Most erinnert.

Die anschließende erste Halbtagesetappe bis Koltschugino hatte es in sich: Das Wetter zeigte sich von der besten Seite, es war heiß, und nach zügigen Abfahrten folgten immer wieder längere Steigungen auf den nächsten Hügel hinauf. Wie erfrischend war da am Abend das Bad im See! Die Zelte waren danach schnell aufgestellt und der warme Eintopf aus Pfadfinderkesseln mit Salat schmeckte herrlich.

Während der folgenden Tagen staunte unser pensionierter Begleitfahrer Boris, selbst Präsident des Moskauer Veloclubs, über manche Kreativitäten unseres Lagerlebens und kündigte an, diese unbedingt seinem Club zur Einführung zu empfehlen.

Auf der Fahrt erlebten wir, wie die nur scheinbar einheitliche Landschaft sich immer wieder veränderte. Walddickichte gingen in Birkenhaine über oder wechselten in weite flache Landstriche mit Wiesen, Feldern und neuer Vegetation. Dazwischen kleine Dörfer und in unregelmäßigen Abständen die Kleinstädte Juriew Polski, Susdal, Gawrilow Possad, Tejkowo, Komsomolsk, Nerechta – und schließlich am Nachmittag des fünften Tages über die langgezogene Wolgabrücke Kostroma mit seinen fast 300000 Einwohnern. Viele unvergessliche Eindrücke bleiben von dieser Velofahrt. Aber am meisten unter die Haut ging den Jugendlichen laut ihren eigenen Worten der fünfstimmige glockenreine Gesang der Mönche in der Hauptkirche von Susdal.

Gemeinsames Pfadfinderlager
Nach beinahe 400 zurückgelegten Kilometern, zuletzt auf rumpligen Straßen mit Schlaglöchern oder zur Abwechslung auch ganz ohne Asphalt, fuhren wir durch die Toreinfahrt der „Arche“. Dort wurde uns ein herzlicher Empfang bereitet. Unser Ziel für die nächsten fünf Tage erreichten wir schließlich nach zehn weiteren Kilometern in der Nähe des Dörfchens Semjonkowo, beim Haus der „Arche“-Pfadfinder auf einer Lichtung mitten im Wald.

Welche Überraschung, als uns am nächsten Tag Pfadfinder, junge Kosaken und Kosakenmädchen mit Tänzen und einem wirbligen Säbelschwingen begrüßten! Die gemeinsame Zeit mit ihnen während ihres Sommerlagers bleibt unvergesslich: Am kunstvoll aufgeschichteten Lagerfeuer verbrachten wir alle gemeinsam die Abende, hörten den russischen Liedern zu und sangen selbst Schweizer Weisen. Obwohl wir nur einige geübte Sänger in unseren Reihen hatten, fanden unsere russischen Kameraden seltsamerweise, dass uns das Singen besser gelinge als ihnen: ihnen gefiel die ganz andere Art der Schweizer Lieder. Für viel Humor sorgten die Szenen, die wir einander vorführten oder die Einzel- und Kreisspiele. Bei allen Aktivitäten wurde fleißig gedolmetscht, eine der Aufgaben der Projektleiterin. Aber manches, zum Beispiel das als Oper gezeigte Märchen „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (für unsere Version hatten wir gerade sieben Jungs als Zwerge) ließ sich auch ohne Worte verstehen.

Die abendlichen, mit vielen Überraschungen bestückten Runden packten unsere Schweizer Pfadfinder – vier der Horgener Jugendlichen sind in der Pfadi – so, dass einer von ihnen fragte: „Wie kann ich auf Russisch sagen: Mir hat es sehr gefallen!“ Seine Begeisterung teilte er darauf sogleich Ilja Borisowitsch Efremov, dem Pfadfinderleiter, mit. Beim Anbeginn der Nacht klangen die Abende dann besinnlich und mit ruhigen Melodien aus.

Die fünf Tage in Kostroma vergingen leider wie im Flug. Am Sonntag nahmen wir am Gottesdienst teil, bei dem jeder der Jugendvelofahrer eine glänzende Ehrenmedaille erhielt. Der Tag hielt noch ein weiteres schönes Erlebnis für uns bereit: unter Anleitung des Kunstlehrers Wjatscheslaw Swjatetz, der in der „Arche“ Zeichnungs- und Modellierkurse durchführt, konnten wir traditionelle Tonpfeifen zum Andenken herstellen. Auch das ersehnte Bad in der Wolga und ein Besuch der Stadt Kostroma fanden in der Woche statt. Am letzten Tag erwartete uns ein Ritt auf den Pferden einer nahgelegenen Kosakenfarm, wohin wir alle – Schweizer Jugendliche und russische Pfadfinder – zu Fuß wanderten.

Geschenk für die „Arche“
Unsere Stahlrösser, die auf der Tour zwischen Moskau und Kostroma treu ihren Dienst geleistet hatten, übergaben wir zum Schluss frisch geputzt der „Arche“ als Geschenk. Pfarrfrau Tatjana erklärte, dass die „Arche“ sie an Familien übergeben werde, deren Kinder sich niemals ein Fahrrad leisten könnten. Die „Arche“, die mit ihren Sport- und Kunstkursen Kindern und Jugendlichen aus bedürftigen Familien eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung ermöglicht, kennt die Situation der jeweiligen Familien sehr gut. Für alle Beteiligten der Jugendveloreise war es etwas ganz Besonderes, diesen Kindern und Jugendlichen ein langwährendes Geschenk zu machen.

Einer der Schweizer Jugendlichen sagte zum Abschied, die Zeit in Kostroma hätte gut zwei Tage länger dauern können. Denn da begannen sich die Lagerteilnehmer aus der Schweiz und aus Russland gerade richtig anzufreunden. Doch leider hieß es: denn Zug besteigen, Abschied nehmen und zum Abschluss St. Petersburg kennenlernen. Aber wer weiß, vielleicht gibt es ja in einem der nächsten Jahre eine Fortsetzung, mit Kostromaer Jugendlichen in der Schweiz? Mit diesen Gedanken fiel der Abschied von den neuen Freunden viel leichter.

pdfRGOW 9/2014, S. 28-29

Bild: Regula Spalinger