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Wir tanzen auf den Ruinen unserer Leben

RGOW 3-4/2024
Ievgeniia Gubkina

Als Architektin reflektiert die Autorin über die Zerstörung des ukrainischen Architekturerbes durch den russischen Krieg gegen ihr Land. Vor dem Krieg stieß ihre Verteidigung des sowjetischen Architekturerbes auf Widerstand. Der Krieg führt zu einem veränderten Blick auf das gesamte kulturelle Erbe der Ukraine, sogar auf das sowjetische, das ebenfalls von den gezielten Angriffen auf die zivile Infrastruktur betroffen ist. Doch jenseits der Ruinen wächst eine neue und unzerstörbare Verbindung zum Kulturerbe der ukrainischen Gesellschaft.

Neben Diskursen über Höhen (Revolutionen, Widerstandskämpfe, Siege) und Tiefen (Krisen, Niederlagen, Zerstörungen) unserer gemeinsamen Geschichte taucht dann und wann ein anderes Interpretationsschema für Raum und Zeit auf, ein geradlinigeres und irreversibleres: das „Ende der Welt“, das sich nach Lust und Laune wiederholt. Viele erinnern sich an das Lied „The End“ von The Doors, das scheinbar eine persönliche Geschichte vom Ende einer Beziehung besingt, aber eigentlich die Niederlage der weltweiten Protestbewegung von 1966–1968 und die Eskalierung des amerikanischen Kriegs im Vietnam ankündigt. 22 Jahre später schrieb Francis Fukuyama 1989 seinen emblematischen Text über das „Ende der Geschichte“. 

Es ist kein Zufall, dass die zweite Hälfte der 1980er Jahre mit mehreren „Enden“ assoziiert wird: der Zusammenbruch der Sowjetunion, der Mauerfall in Berlin, die Desillusionierung vom modernen Fortschrittsversprechen, die auf die Katastrophen im indischen Bhopal (1984) und von Tschernobyl (1986) folgte. Hinzu kamen eine Reihe mehr oder weniger schwerer militärischer Konflikte weltweit und der größte Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg: der Jugoslawien-Krieg in den 1990er Jahren. In dieser Logik sieht Eric J. Hobsbawm in den 1980er Jahren das Ende des „kurzen 20. Jahrhunderts“ im Gegensatz zum „langen 19. Jahrhundert“.[1] Der Begriff vom Ende von Epochen, Zivilisationen und Welten dient noch heute als Hauptleseraster für schmerzhafte Demarkationslinien der Geschichte zwischen dem Davor und dem Danach. 

Der Sowjetmodernismus und ich
In meinem Text „‘Losing my religion’ – der ukrainische Sowjetmodernismus und wir“, der 2019 in dieser Zeitschrift publiziert wurde,[2] hatte ich versucht, meine (nicht sehr erfolgreiche) Erfahrung bei der Verteidigung, Förderung und dem Schutz des sowjetischen Architekturerbes in der Ukraine kritisch zu evaluieren. Es ging auch um eine Reflexion meines persönlichen Wegs, um dieses umstrittene Erbe in der ukrainischen Gesellschaft sowie darum, mich als Forscherin im Schicksal dieses Erbes neu zu verorten. Damals schien das Interesse an sowjetischer Architektur in einer Art religiösem Modernismus-Kult einer kleinen Gruppe von jungen Urbanisten, Architektinnen und westlichen Forschern festzustecken, oder auch Musikern, die anreisten, um hier ihre Videoclips zu drehen. Diese Architektur kämpfte ums Überleben, eingesperrt zwischen hohen, inkohärenten bürokratischen Hürden eines Statuts zum „jungen“ Erbe des 20. Jahrhunderts, der Ablehnung durch Rechtspopulisten und Großunternehmen sowie dem Unverständnis weiter Teile der Gesellschaft. 

Diese Etappe meiner Recherche und meines beruflichen Wegs stellte für mich eine Art Ende der Welt dar, das Ende meiner Überzeugungen, Ansprüche, Interessen und meiner Weltanschauung. Auch wenn ich den Stand der Dinge, meiner Grenzen und der Unmöglichkeit, alles zu retten, akzeptiert hatte, so blieb mir doch bewusst, dass ich dieses Erbe trotz seiner Unvollkommenheit liebte. 

Mit Zärtlichkeit erinnere ich mich an diesen Salinger’schen Moment des Verlusts und des Abschieds. An den Verlust eines quasi-religiösen Glaubens und den Abschied von einem Traum und einer Hoffnung, einen anderen Glauben zu finden. Das Lied der amerikanischen Gruppe R.E.M. „Losing my religion“ von 1991 – im Jahr des Zusammenbruchs der UdSSR und der Unabhängigkeitserklärung meines Landes, der Ukraine – fand Resonanz in meinen Reflexionen. Es war eine Hymne à la Bob Dylan, pulsierender, sinnlicher sozialpolitischer Rock, der energisch auf die vorherrschende Realität reagierte. Meine ganze Generation ist in den 1990er Jahren mit diesen Stimmen aufgewachsen. Trotz eines bittersüßen Gefühls der Traurigkeit und der Nostalgie habe ich diese Periode auf eine gesunde und natürliche Weise erlebt. Im aktuellen Kontext des Kriegs und der Verluste von ganz anderer Art und Tragweite kann ich mich nur freuen, dass die ukrainische Gesellschaft der 1990er Jahre – und man darf diesen Moment als die „Blütezeit ihrer Kultur“ bezeichnen – die Chance hatte, ihre Grenzen auszutesten und ihre existentiellen Grundlagen zu erfassen, und zwar unter „ausreichend guten“ Bedingungen, in Analogie zum Konzept einer „ausreichend guten Mutter“ (engl. good enough mother) des englischen Kinderarztes Donald Winnicott. 

Der große russische Krieg
Dann hat der Krieg unseren Blick auf die gewohnten Dinge verändert. Seither trennen die Ukrainer ihr Leben in ein vor und nach dem 24. Februar 2022, ohne zu vergessen, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine vor zehn Jahren mit der Annexion der Krim begonnen hat – wenn er nicht schon seit Jahrhunderten andauert. 2014 hat die Welt den Raub von Territorien eines souveränen Staates und den Krieg im Donbass nicht bemerkt. Sie verhedderte sich in Interpretationsnuancen, spielte diplomatische Spielchen zwecks Besänftigung des Raubtiers. Dann hat sie den Fokus auf nationalistische Bewegungen gelegt, vor allem auf das Gesetz der Dekommunisierung.[3] Sie versuchte zu zeigen, dass alles nicht so einfach ist, um weiterhin das „große“ Russland mit seinem Öl und seinem Ballett lieben und unseren „kleinen“ Schmerz und unsere Kultur ignorieren zu können. Es brauchte Tausende von ermordeten Ukrainern und dutzende zerstörte Städte, damit die Welt den Blick auf den russischen Krieg jenseits der russischen Kultur richtete. 

Seit den ersten Kriegstagen wurde meine Geburtsstadt Charkiw von Russland bombardiert. Diese Bombardierungen haben etwa 5 200 Gebäude unterschiedlich stark beschädigt, einschließlich denkmalgeschützter Gebäude wie die Regionalverwaltung von Charkiw, den Palast der Arbeit im neoklassizistischen Stil, die Wirtschaftsfakultät der Charkiwer Universität im Stil des ukrainischen Art nouveau, das Appellationsgericht im Renaissance-Stil, das alte Maslovski-Mietshaus im Art nouveau-Stil und viele weitere mehr. Im Gegensatz zum chaotischen Eindruck, den die Fotos von Kriegszerstörungen vermitteln, zerstört die russische Armee das kulturelle Erbe oder bestimmte Stadtgefüge nicht zufällig. Die Zerstörung von Städten ist eine methodische militärische Taktik, die Russland bereits in Tschetschenien, in Syrien und in Georgien angewandt hat.

Der Feind der russischen Armee ist die Zivilbevölkerung der zerstörten Städte. Das Ziel ist die militärische Expansion. Das Wesen des Kriegs ist total: zerstören, nicht besetzen. Russland beachtet keine einzige internationale Konvention und keine einzige Kriegsregel, indem es verbotene Waffen, massive Zerstörungswaffen, Vergewaltigungen, Deportation der Bevölkerung, Entführung von Minderjährigen einsetzt.

Die zivilen Ziele sind auch nicht zufällig ausgewählt. Infrastrukturen dienen der Verwaltung, der Kultur und der Bildung, der Gesundheit und der Sicherung des Lebens einer Stadt. Man zerstört erst Wohnblöcke, zuerst durch punktuelle „terroristische“ Operationen, dann, wie das Beispiel Mariupols gezeigt hat, durch systematische und totale Zerstörung ganzer Quartiere einschließlich ihrer Bewohner.

Das ist, genährt durch Generationen von Führungspersonen und Persönlichkeiten der kulturellen Welt und genehmigt vom russischen Volk, die militärische Kultur Russlands. Als Kultur eines Staates und eines Volks ist sie im sozialen System und dessen Wahrnehmung seiner Stellung in der Welt verwurzelt. Jedes Mal, wenn man die „große russische Kultur“ lobpreist und fördert, ist es angebracht, auch die Kehrseite des großen russischen Balletts und des großen „russischen Klassizismus“ zu erkennen: den großen russischen Krieg. Er breitet sich über die Territorien fremder Länder und anderer Völker aus, und er zeigt sich nicht nur in utopischen Masterplänen neuer Städte, sondern auch in militärischen Karten ihrer Zerstörung. 

Ich glaube nicht, dass das sowjetische Architekturerbe in der Ukraine heute noch eine widersprüchliche Rezeption erfährt. Der Begriff des „Erbes“ hat zu seiner ursprünglichen Bedeutung zurückgefunden als Erbe, das der Gesellschaft gehört und von Generation zu Generation überliefert wird. Während die Russen unser Erbe zerstören, wäre es undenkbar, dass die Ukrainer selbst was auch immer zerstören, einschließlich des sowjetischen Architekturerbes. Dennoch ist eine kritische Haltung gegenüber dem Erbe notwendig, denn man kann die Augen nicht mehr vor der Geschichte der Kolonialisierung und des russischen Imperialismus in der Ukraine verschließen. 

Das gilt auch für die Unterstützung der Kandidatur Odessas für das UNESCO-Weltkulturerbe. Trotz aller Liebe zu Odessa und der Notwendigkeit, dass es auf dieser Liste stehen sollte, kann man den historischen Rahmen nicht ignorieren, in dem sich dieses Erbe befindet, die Rolle, die es gespielt hat, die Politik, an der es teilgenommen hat. Warum und in welchem Kontext bewahren wir das Erbe Odessas? 

Dasselbe gilt auch für das Erbe des stalinistischen Sozialistischen Realismus: Niemand würde den Wert des Chreschtschatyk-Boulevards in Kyjiw oder des regionalen Verwaltungsgebäudes in Charkiw bestreiten, doch die Rolle des Sozialistischen Realismus und der Moskauer Architekturfunktionäre bei der Schaffung eben dieser Architektur muss hinterfragt werden.

Ein Manifest der Jugend und des Lebens
Was, wenn das wirklich das Ende der Welt wäre? Für viele Ukrainerinnen und Ukrainer ist das sicher der Fall. Unser ganzes Leben, unsere Städte, die wir geliebt haben, unsere Kultur, unsere Geschichte, unsere Erinnerungen und Güter sind dabei, völlig zerstört zu werden. Jeden Tag werden ukrainische Menschen, Kinder und Erwachsene getötet. Eine Welle des Genozids ist über uns hereingebrochen. Unsere Welt ist zusammengebrochen. Wir erleben eine Apokalypse. Wir überschreiten nicht erst die Grenze vom Leben zum Tod, wir sind schon dort. Der Tod und die Vernichtung haben uns überwältigt, sie sind überall. Landschaft und Psyche sind gezeichnet von Löchern und Wunden, für viele kommende Generationen. Wir folgen einem „Weg“, der in einem kolossalen Ausmaß von Traumata gesäumt ist, wir passieren alle Etappen, vom Schock bis zur Resignation.

Die Schule Nr. 134 in Charkiw wurde zu Beginn des Krieges zerstört. Auf einem Foto, das in den Social Media berühmt wurde, sieht man Valerija, die an dieser Schule diplomiert wurde, in einem roten Kleid. Im Sommer haben die Diplomierten des ganzen Landes sich organisiert und Videos und Amateurfotos auf den Ruinen ihrer zerstörten Schulen realisiert.[4] Dieses Ritual hat es ihnen erlaubt, ihre lang erwartete Diplomfeier zu begehen, aber unter den mörderischen Bedingungen der Realität. Sie haben sich ihre traumatische Geschichte angeeignet. 

Wie Noah Ray, der Held eines Clips von R.E.M. zum Song „It’s the End of the World as We Know It (And I Feel Fine)“, der 1988 auf den Ruinen eines verfallenen Hauses tanzte. Dank diesem Clip ist James Herbert, ein Schüler einer normalen amerikanischen Schule, zu einer Berühmtheit geworden. Zu Beginn des Clips erkundet Noah, zuerst schüchtern vor der Kamera, die Trümmer eines verfallenen Hauses, er schlendert durch finstere, leblose Zimmer, betrachtet im Raum zerstreute Fotographien, streckt sich in seinem Zimmer aus, spielt mit seinem Hund. Doch ein Jugendlicher bleibt in jedem Kontext ein Jugendlicher. Noah zieht spontan sein T-Shirt aus und beginnt zu tanzen, nimmt ein Skateboard, spielt mit den herumliegenden Sachen, übt Skateboard-Kunststücke hinter einem riesigen Loch in der Mauer. Der Tanz Noahs auf den Ruinen ist ein Manifest der Jugend und des Lebens, er transzendiert den Tod und die Zerstörung. 

Das Ende der Welt zu erleben ist eine extreme Erfahrung. Es ist aber auch eine Gelegenheit, zu wachsen und zu reifen. Wir können aus dem Trauma am Boden zerstört oder verwundet heraustreten, aber wissender und reifer. Wir werden nie mehr naive und leichtfertige Kinder sein, sondern tiefsinnige und starke Erwachsene. Wir werden von Phantomschmerzen verfolgt sein, doch werden wir sie im Neuen sublimieren. Wir haben die Realität in ihrer extremsten und brutalsten Form gesehen. Unser Denkapparat wurde von allem Überflüssigen befreit, und wir haben wie nie zuvor die Fähigkeit erlangt, fruchtbare Gedanken und Ideen zu produzieren. 

Wir sind unserem Land, unserer Kultur und unserem Erbe so nah wie nie zuvor. Anleitungen und Strukturen zwischen uns und der Welt brauchen wir nicht mehr, auch keine Narrative und veraltete Theorien. Wir sind direkt mit unserem Erbe verbunden. Wir haben eine Beziehung zu ihm. Wir haben es uns wieder angeeignet. Auch wenn es zerstört wurde, besitzen wir es wie noch nie zuvor. 

Wir tanzen auf den Ruinen unserer Häuser. 

Wir tanzen auf den Ruinen unserer Leben. 

Wir tanzen auf den Ruinen unserer Vergangenheit. 

Wir tanzen auf den Ruinen des Todes. 

Auf den Ruinen verfaulter und skrupelloser Imperien. 

Wir manifestieren das Leben und gehen vorwärts in den morgigen Tag. 

 Anmerkungen:
[1])    Hobsbawm, Eric J.: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 1995 (Originaltitel: The Age of Extremes 1914–1991, 1994).

[2])    Gubkina, Ievgeniia: „Losing my religion“ – der ukrainische Sowjetmodernismus und wir. In: RGOW 47, 4–5 (2019), S. 36–39.

[3])    Vgl. Kasianov, Georgiy: Neuvermessung des öffentlichen Raums: Ukrainische Geschichtspolitik. In: RGOW 50, 7 (2022), S. 18–20. 

[4])    Vgl. https://www.thesun.co.uk/news/18814657/ukrainian-students-prom-bombed-out-school/

Übersetzung aus dem Französischen: Regula Zwahlen.

Erstmals veröffentlicht: „It’s the End of the World As We Know It (And I Feel Fine)”. In: Terre d’Architectures 6 (2022), S. 71–74.

Ievgeniia Gubkina, Architektin, Architekturhistorikerin, Mitgründerin der NGO Urban Forms Center (Charkiw), seit 2022 Gastwissenschaftlerin am University College London (UCL).

Bild: Das Gebäude der Regionalverwaltung von Charkiw wurde am 1. März 2022 bombardiert (Foto: Pavlo Dorohoi).

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