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Strafgefangenenhilfe: Das Antlitz des Menschen sehen

Regula Spalinger

Erzpriester Evgenij Ketov ist für die Strafgefangenhilfe in der Haftanstalt IK-2 in Ponazyrevo, Gebiet Kostroma, verantwortlich. Aus seinen Begegnungen mit den Häftlingen ist die Idee entstanden, ein zweistufiges Rehabilitationszentrum aufzubauen, um die Strafgefangenen besser auf das Leben „in Freiheit“ vorzubereiten, da die russischen Gefängnisse und Straflager kaum auf Resozialisierung ausgerichtet sind. Die Projektverantwortliche von G2W, Regula Spalinger, hat Vater Evgenij in Ponazyrevo besucht und berichtet von ihren Eindrücken.

Vor kurzem ist das Buch „Meine Mitgefangenen“ von Michail Chodorkowski in deutscher Übersetzung erschienen. In dem Buch schildert Chodorkowski nicht sein eigenes zehnjähriges Lagerleben in abgelegenen Straflagern in Sibirien und Karelien, sondern skizziert in einprägsamen Porträts Mithäftlinge oder Aufseher. Dabei beschreibt er sowohl solche, die mit dem System „kooperieren“, wenn Denunziation anderer verlangt wird, selbst wenn diese gar keine Straftat begangen haben, als auch solche, die ihre Würde in ähnlichen Situationen zu bewahren versuchen. Die Szenen sind ungeschönt, manchmal brutal, wie der Gefängnisalltag nun einmal ist; doch sie sind zugleich von mitmenschlichen Zwischentönen geprägt. Der Autor ist nie „neut raler“ Beobachter, sondern stellt sich immer wieder grundsätzliche F ragen: „Oft wird es einem geradezu unheimlich zumute angesichts der gedankenlosen Verschwendung von Menschenleben. Durch eige ne Hand oder das seelenlose System zerstörte Schicksale“ (S . 11). Allein die Tatsache, dass in Russlands Gefängnissen über 1,3 Mio. Menschen einsitzen, lässt aufhorchen. Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist es eine der höchsten Raten an Strafgefangenen weltweit. Wie der Autor Chodorkowski schreibt, befindet sich somit jeder hundertste Bewohner Russlands hinter Gittern; und nach offiziellen Statistiken gerät etwa jeder zehnte Mann des Landes einmal i n seinem Leben in Haft.

Strafgefangenenhilfe von G2W
Bereits über zwei Jahrzehnte engagiert sich G2W in der Strafgefangenenhilfe in Russland und setzt diese so wichtige Tätigkeit auch a ktuell fort. Unser anfänglicher Partner war seit 1991 der Verein „Glaube, Hoffnung, Liebe“ unter der Leitung der Juristin Natalija Wysozkaja, eine Organisation, die durch den unermüdlichen Einsatz und tausende von Arbeitsstunden freiwilliger Helfer beispielsweise erreichte, dass die Hygieneverhältnisse in den Untersuchungsgefängnissen von 15 Regionen Russlands durch die Einrichtung von s eparaten, modernen Kleinwäschereien entscheidend verbessert werden konnten. So wurde die gefährliche, in russischen Haftanstalten weit verbreitete Tuberkulose erfolgreich bekämpft. Und dies in vertraglicher Zusammenarbeit mit dem obersten Tuberkulosearzt der russischen Strafvollzugbehörde. Viele Dankesäußerungen von Gefängnisleitungen und Gefangenen erreichten den Verein, unter anderem ein ausführliches Schreiben vom Direktor des Untersuchungsgefängnisses Nr. 1 d er Altai-Region in der Stadt Barnaul oder ein Dankesbrief vom Leiter des Untersuchungsgefängnisses Nr. 6 in St. Petersburg. Im September 2012 hat sich der Verein „Glaube, Hoffnung, Liebe“ aufgelöst, nicht zuletzt aufgrund der schwieriger werden - den Situation für Nichtregierungsorganisationen nach Annahme d es sog. „Gesetzes über ausländische Agenten“ durch die russische Duma im Sommer desselben Jahres (s. RGOW 12/2012, S. 5 f .). Doch wird die Arbeit des Vereins teilweise auf der Ebene von Kirchgemeinden weitergeführt. Natalija Wysozkaja empfahl dem Institut G2W in dieser Hinsicht die Zusammenarbeit mit Erzpriester Evgenij Ketov.

Eine neue Perspektive
Vater Evgenij ist seit mehreren Jahren für die Strafgefangenenhilfe in der Haftanstalt IK-2 in Ponazyrevo, Gebiet Kostroma, verantwortlich und hat in der Nachbarschaft ein kleines Rehabilitationszentrum bei der Gemeindekirche des Ortes eingerichtet. Dieses Zentrum hat eine große Anziehungskraft entwickelt, auch wenn die Arbeit in einem recht abgeschiedenen Dorf mit rund 3500 Einwohnern geschieht. 2012 drehte der Regisseur Andrej Andrejev einen 3 5-minütigen Dokumentarfilm mit dem Titel Deti Božji („Kinder Gottes“). Der russische Film mit englischen Untertiteln wurde vom ursprünglich aus der Ukraine stammenden Regisseur ohne jegliche Fördergelder oder Sponsoren gedreht (abrufbar unter: www.cul - tandart.ru ) und zeigt auf eindrückliche Weise, dass in Russland die Wiedereingliederung von ehemaligen Strafgefangenen auf Gemeindeebene gelingen kann. Aufgrund des Films wurden mehrere russische Zeitungen auf das Projekt aufmerksam. Unter ihnen die bekannte Tageszeitung Izvestija oder das unabhängige orthodoxe Monatsmagazin Foma , die ausführlich über das Rehabilitationszentrum berichteten. Im Zusammenhang mit der Entstehung des Films schilderte der Regisseur einige außergewöhnliche Begebenheiten. So wurde beispielsweise die digitale Nachbearbeitung und d ie Unterlegung des Films mit Musik kostenlos von Muslimen aus einem der besten Filmstudios des Landes für Spezialeffekte erstellt: „Sie sagten, dass Gott in diesem Film anwesend sei.“
Im Herbst 2013 konnte ich in Moskau gemeinsam mit Natalija Wysozkaja, der erfahrenen Vorkämpferin für die russische Strafgefangenenhilfe, und Franziska Rich zum ersten Mal ein Gespräch m it Vater Evgenij führen. Ende Februar 2014 führte mich dann ein Besuch in den abgelegenen Nordosten des Kostromaer Gebiets, nach Ponazyrevo. Evgenij Ketov erwartete mich auf dem verschneiten Bahnhof, an dem nur zweimal am Tag Züge aus Moskau anhalten, einmal davon mitten in der Nacht.

Manche Wendungen sind nicht voraussehbar
Vater Evgenij erzählte mir, dass er diesen Dienst nicht gesucht habe, vielmehr der Dienst ihn. Vor neun Jahren sei er von seinen Vorgesetzten dazu bestimmt worden, in der Strafkolonie IK-2 von Ponazyrevo als Priester der Gefängniskirche des Hl. Johannes von Kronstadt zu wirken. Als er dort eintraf, dauerte es einige Jahre, bis die Häftlinge ein echtes, tieferes Vertrauen zu ihm aufbauten. Aus der praktischen Erfahrung, dass viele ehemals Inhaftierte nach der Entlassung aus dem Gefängnis keinen Ort haben, wohin sie zurückkehren können, etwa weil die nächsten Angehörigen gestorben sind oder weil es die Verhältnisse nicht erlauben, reifte bei Vater Evgenij allmählich der Entschluss, gerade für diese Haftentlassenen bei der Gemeindekirche der Hl. Xenia von Petersburg ein kleines Rehabilitationszentrum einzurichten.
Im Winter 2010 erfasste ein Brand die alte Kirche, die dadurch bis auf die Grundmauern zerstört wurde. Die Gemeindeglieder und Vater Evgenij beschlossen ein neues Gotteshaus zu bauen. Durch viele Einzelspenden konnte immer wieder eine weitere Bauetappe in Angriff genommen werden. Eine Sammlung in einer nahegelegenen milchverarbeitenden Fabrik half über die kritischste Zeit hinweg, als sogar das Geld für Lebensmittel fehlte. Einer der Bewohner von Ponazyrevo trug mit einem Betrag bei, der aus dem Verkauf seines Autos stammte. Aufgrund des Films, der Zeitungsberichte und Erzählungen von Mund zu Mund kommen weiterhin immer wieder Menschen, selbst aus entlegenen Gegenden Russlands, die für einige Zeit beim Bau helfen. Zudem ist da noch Sergej, der jetzt ganz im Haus von Vater Evgenij bei der Gemeinde lebt und der ursprünglich aus Surgut, einer Stadt im westsibirischen Tiefland stammt. Er ist pensioniert, arbeitete früher als Chauffeur und ist gelernter Elektriker. Wie alle anderen packt er überall an, wo Not am Mann ist. Durch den Neubau wurde die kleine Gemeinde noch mehr zusammengeschweißt.

Zwei Stufen der Rehabilitation
Als ich im Februar die Gemeinde und das Rehabilitationszentrum besuchte, war der Bau der fast vollständig aus Holz errichteten Kirche beinahe fertig. Zehn Tage vor Ostern wurden dann mit professioneller Hilfe und einem Kran die vergoldeten Kuppeln der Kirche aufgesetzt. Im Glockenturm, der zuunterst einen Heizraum und die Küche umfasst, sind über Holzleitern die auf mehreren Stockwerken verteilten Arbeits- und Schlafräume der jetzt fünf Bewohner, alles ehemalige Strafgefangene aus der Kolonie IK-2, erreichbar. Arbeit gibt es immer in Hülle und Fülle: Holz hacken, die restlichen Räume isolieren, auch der Bau einer geplanten Schule mit Gästezimmern soll rasch vorangebracht werden. Eine Zeit ohne Gäste, die bei der Arbeit mit anfassen, gibt es, wie Vater Evgenij lächelnd erklärt, eigentlich nie.
Wer aus der benachbarten Strafkolonie entlassen wird, kann je nach Bedarf für eine kürzere oder längere Zeit im Rehabilitationszentrum der Gemeinde verbringen. Vater Evgenij macht die Erfahrung, dass selbst ein bis zwei Wochen Mitarbeit als weitere Stufe der Vorbereitung auf das Leben „in Freiheit“ den ehemaligen Häftlingen dabei helfen, nicht erneut in die Kriminalität abzugleiten. Voran geht jedoch eine erste Phase der Rehabilitation innerhalb der Gefängnismauern. Angegliedert an die winzig kleine Gefängniskirche und in Zusammenarbeit mit den Freiwilligen des ehemaligen Vereins „Glaube, Hoffnung, Liebe“ von Natalija Wysozkaja konnte dort ein erstes Reha-Zentrum eingerichtet werden, das noch in diesem Jahr bezugsbereit ist. Sechs Schlafräume wurden aus den restlichen Mitteln bei der Vereinsauflösung von „Glaube, Hoffnung, Liebe“ mit 5–6 guten Holzbetten, Nachttischchen, einem Holzschemel und Wandspiegel pro Schlafplatz bestückt. Ebenso wichtig war Natalija Wysozkaja die Ausrüstung mit drei neuen Waschmaschinen und drei Kühlschränken (je eine/r davon als Reserve). Vater Evgenij arbeitet mit den Häftlingen, die vor der Entlassung stehen, seit jeher intensiv zusammen. Im neuen, gefängniseigenen Reha-Zentrum werden diese noch besser auf die Eigenständigkeit, Selbstverantwortlichkeit und gleichzeitig das soziale Miteinander im Leben „danach“ vorbereitet. Vater Evgenij beobachtet genau, wählt aus, wer von den Häftlingen sich am besten für die anschließende Rehabilitationszeit in der Gemeinde in Ponazyrevo eignet, bzw. wer diese am meisten benötigt.
Vater Evgenij kennt die verschiedenen Facetten seiner Schützlinge bestens. Doch die Bemühungen in seinem Rehabilitationszentrum in Ponazyrevo zeigen, dass die Statistik, wonach 75 % d er ehemaligen russischen Häftlinge erneut straffällig werden, mit innerer und äußerer Arbeit auf beeindruckende Art verändert werden kann. Nach dem Schwierigsten an seiner Arbeit gefragt, betont Vater Evgenij: Das Anspruchsvollste sei, in genügendem Maß Geduld und christliche Liebe aufzubringen, das andere ergebe sich daraus

Sie können die Arbeit der Strafgefangenenhilfe Ponazyrevo mit einer Spende auf das Konto von Forum RGOW (IBAN CH22 0900 0000 8001 51780) mit dem Vermerk „Strafgefangenenhilfe“ unterstützen.

pdfRGOW 8/2014, S. 28-29

Bild: Regula Spalinger