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Alle Kinder sind willkommen

Regula Spalinger im Gespräch mit Tajana Vischnjakova

In der zentralrussischen Stadt Kostroma wächst der Anteil Kinder aus bedürftigen Familien. Kostenlose Freizeitkurse bietet einzig das orthodoxe Kinder- und Jugendzentrum „Arche“ an. Die „Arche“ integriert in  ihre Kurse auch Kinder mit Beeinträchtigungen und hat im letzten Jahr eine Filiale in einem städtischen Außenquartier eröffnet. Für dieses Jahr steht der Einbau einer neuen Heizanlage an, wie die stv. Leiterin des Jugendzentrums, Tatjana Vischnjakova, im Gespräch mit Regula Spalinger berichtet.

In den letzten Jahren ist der Anteil von Kindern aus bedürftigen Verhältnissen, die die „Arche“ besuchen, stark gestiegen. Was sind die Gründe dafür? 
Tatjana Vischnjakova:
Seit fünf Jahren müssen die Familien einen immer höheren Lohnanteil zur Deckung der elementarsten Grundbedürfnisse wie Lebensmittel, Wohnen etc. ausgeben. Selbst Familien, die der Mittelschicht angehören, bekunden heute Mühe, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Gleichzeitig hat die Zahl bedürftiger Familien deutlich zugenommen. Für solche Familien sind Freizeitkurse in den üblichen kostenpflichtigen Einrichtungen unbezahlbar. Eine Stunde Musikunterricht oder in einem Sportverein für Kinder kostet heute in Kostroma durchschnittlich 450 RUB (6 EUR). Meist sind zwei Stunden pro Woche Standard, was bereits 3 600 RUB pro Monat für eine Familie mit einem Kind ausmacht. Was aber, wenn die Familie zwei, drei oder mehr Kinder hat? Eltern sozial schwacher Familien verdienen in der Regel in unserer Gegend 14 000 bis 15 000 RUB (190 bis 200 EUR), manche gar nur 11 000 RUB pro Monat. Vor diesem Hintergrund kann sich keine dieser Familien große Freizeitausgaben für die Kinder leisten. Auch bei der „Arche“ müssen die Eltern die Kosten für Hefte, Farben und Pinsel, Schürzen etc. tragen. Doch die Kurse selbst sind kostenlos, weil sie allen Kindern, unabhängig vom Einkommen der Eltern, zugänglich sein sollen. Auch scheint sich die Vielfalt und Qualität unserer Kurse herumzusprechen. So haben wir unter unseren Kindern solche, die mit ihren Eltern auf die andere Wolga-Seite gezogen sind und trotzdem weiter den langen Weg zu uns auf sich nehmen. Manche Eltern möchten ihre Kinder, auch die kleineren, zu einer bestimmten Pädagogin schicken, weil sie sagen, eine bessere hätten sie in der ganzen Stadt nicht getroffen. Die Persönlichkeit des Pädagogen ist entscheidend. Durch fachliche Kompetenz und eine ausgewogene Mischung aus Strenge und Fröhlichkeit der Lehrkraft entsteht für die Kinder die beste Atmosphäre zum Lernen. Dies bemerken Kinder wie Eltern, wodurch oft eine langjährige Verbundenheit zu unserem Zentrum entsteht. 

Wie integriert die „Arche“ Kinder mit Beeinträchti­gungen? 
Bisher nehmen wir insbesondere Kinder mit leichten körperlichen Behinderungen, Sehbehinderungen, Kinder mit Down-Syndrom und maximal ein bis zwei autistische Kinder pro Gruppe in die dafür geeigneten Kurse auf. Das ist möglich, da die Mehrzahl unserer Lehrkräfte eine heilpädagogische Grund- oder Zusatzausbildung besitzt. Für eine komplette Inklusion von Kindern mit schwereren körperlichen Beeinträchtigungen fehlt uns leider bisher die entsprechende bauliche Ausstattung wie z. B. Rampen. Die meisten unserer Kursräume liegen im oberen Stockwerk. Manchmal helfen uns unsere älteren Pfadfinder beim Hinauftragen von körperlich beeinträchtigten Kindern, doch sind sie nicht immer da. Da wir zudem auch immer wieder behinderte Kinder und Erwachsene aus Heimen der Umgebung in unser Zentrum einladen, hoffen wir, die „Arche“ in naher Zukunft baulich so umrüsten zu können, dass all unsere Besucher ungehinderten Zugang haben. In Russland herrschte lange die Tendenz vor, beeinträchtigte Menschen von den übrigen abzusondern. Die Kinder, welche die „Arche“ besuchen, sind im Umgang mit Behinderten zwar bereits geübt und erleben sie als gleichwertige Spielgefährten. Doch bei den Eltern sind nicht selten noch Ängste gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen anzutreffen. Wir begegnen diesem Umstand, indem wir psychologische Begleitgespräche mit Elterngruppen bzw. Einzelnen führen. Unser gemischter kreativer Kurs für Eltern von Kindern mit und ohne Behinderung, der jeweils montags stattfindet, trägt ebenfalls viel dazu bei, dass ein vertrauensvoller Umgang untereinander entsteht.

Im letzten Jahr hat die „Arche“ in einem Außenquartier von Kostroma eine Filiale eröffnet. Wie entwickelt sich die dortige Arbeit?
Im Zentrum „Rebrovka“ gibt es mittlerweile ein Malstudio, eine Bastelgruppe, ein Theaterstudio und ein Instrumentalensemble für insgesamt 35 Kinder. Wir führen die Kurse jeweils von Freitag bis Sonntag durch, denn die leitenden Pädagogen haben noch eine Hauptbeschäftigung an einem anderen Ort. Die immer noch kleine Musikgruppe hängt auch mit den materiellen Verhältnissen und dem Bildungsniveau in diesem Viertel zusammen. Die Mehrheit der Familien lebt in einfachen, ärmlichen Holzhäusern. Die Kinder kommen mit geringeren Vorkenntnissen, denn leider ist die Qualität der Schulen hier schlechter als anderswo in der Stadt. Umso mehr wird nach Aussage von Gemeindegliedern unsere Arbeit hier geschätzt. Für die Kinder gab es bisher keinerlei Freizeitangebote, nicht einmal einen Spielplatz, so dass sie sich nur auf der Straße oder Zuhause treffen konnten. Trotz der schwierigen Aufbauarbeit können wir sagen, dass schon erste Erfolge in der Zusammenarbeit mit den Eltern und bei der Belebung des Quartiers bemerkbar sind. An einem Wochenende im Winter haben wir einen Schneeskulpturenwettbewerb durchgeführt, an dem viele Familien mit Vergnügen teilnahmen. Und die benachbarte Grundschule mit angegliedertem Kindergarten hat unsere Theatergruppe eingeladen, auch dort ihre Weihnachtsaufführung zu zeigen. 

Welches Echo erfährt die „Arche“ in der Öffentlichkeit?
Die Stadt und die Gebietsverwaltung stufen unsere Tätigkeit durchaus als wichtig ein. So konnten wir beispielsweise im vergangenen Jahr mit der Bevollmächtigten für die Rechte des Kindes des Gebiets Kostroma einen Zusammenarbeitsvertrag unterzeichnen. Das geschah auf Initiative der Behörde selbst, da unsere Organisation große Erfahrung in der Betreuung und Erziehung von Kindern aus schwierigen sozialen Verhältnissen mitbringt und eine der ältesten auf diesem Gebiet tätigen Einrichtungen in Kostroma ist. Momentan sind wir zudem in Gesprächen mit dem Bildungsdepartement der Stadt Kostroma, um in Zukunft verschiedene Kulturveranstaltungen für Kinder gemeinsam durchzuführen. Unser orthodoxes Jugendzentrum steht ja allen Kindern, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, offen. Mit der Metropolie Kostroma pflegen wir ebenfalls eine sehr gute Zusammenarbeit, u. a. im Zusammenhang mit dem „Jolka-Fest“, das wir jedes Jahr um Weihnachten für rund 1500 bedürftige Kinder organisieren. Dessen künstlerische Leiterin und Lehrplanverantwortliche der „Arche“, Olga Strelbizkaja, wurde für ihre Verdienste am 29. August 2018 durch Metropolit Ferapont (Kaschin) mit einer von Patriarch Kirill verliehenen Medaille ausgezeichnet. Das ist auch insofern eine außergewöhnliche Auszeichnung, als zumeist Männern eine solche Medaille verliehen wird. Die Nachrichten-Abteilung der Metropolie und Medien der Region berichten regelmäßig über unsere wichtigsten Anlässe.

2019 steht ein großer Umbau rund um die Heizanlage der „Arche“ an. Warum ist dieser dringend notwendig?
Als Team der „Arche“ verhalten wir uns sehr bewusst und sparsam gegenüber allen Ressourcen, die wir verwenden. Es war für uns deshalb immer bitter, dass wir die Heizenergie, die von einer zentralen Fernwärmestation der Stadt geliefert wird, gemäß dem in Russland verbreitetem System nicht regulieren können. Aufgrund von im Voraus erstellten meteorologischen Wetterprognosen wird die Heizwärme in unser Gebäude eingespeist, aber wenn es dann tatsächlich weniger kalt ist, erhalten wir trotzdem die zuvor errechnete Wärme und haben keinerlei Möglichkeit, diese zu drosseln, außer durch das Öffnen der Fenster. Wir waren also in der Vergangenheit nicht selten gezwungen, zum Fenster hinaus zu heizen, was vollkommen falsch ist, und dafür noch zu bezahlen. Außerdem stammt die jetzige Heizung in unserem Gebäude aus dem Jahr 1954 und ist nur schon durch ihr Alter alles andere als energieeffizient. Zudem droht jederzeit ein Rohrbruch an der veralteten Anlage. Mit der neuen Heizung, deren Einbau wir in diesem Jahr durchzuführen hoffen, werden wir die Wärme absolut autonom entsprechend der Außentemperatur im eigenen Heizraum einstellen können. Durch die zeitgemäße Anlage können wir in Zukunft bis zu zwei Drittel der heutigen Kosten einsparen und diese Mittel ganz für den Unterricht mit den Kindern einsetzen.

pdfRGOW 3/2019, S. 31–31 

Bild. Arche