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"Kinder der Hoffnung": Hilfe für vom Krieg vertriebene Familien

Regula Spalinger im Gespräch mit Igor Smazhennyi

Die ukrainische NGO „Kinder der Hoffnung“ ist nach dem Beginn des Krieges im Donbass gegründet worden und hat sich anfangs vor allem auf geflohene Familien aus dem Osten des Landes konzentriert. Viele Familien mussten nach dem 24. Februar erneut fliehen, wovon Igor Smazhennyi, der Leiter der NGO, berichtet. „Kinder der Hoffnung“ unterstützt Familien in der Ukraine als auch im Ausland materiell und mit psychologischer Betreuung.

Was war der Anlass zur Gründung Ihrer Organisation?
Unsere Organisation wurde 2015 nach der ersten Invasion Russlands in die Ukraine gegründet. Unser Ziel war es, vor allem Kindern unter den intern Vertriebenen zu helfen. Unter den Geflüchteten waren auch zahlreiche Familien, in deren Obhut Waisenkinder aufwuchsen. Bis vor 25 Jahren existierten in der Ukraine für solche Kinder ausschließlich Waisenhäuser, d. h. Internate. Da diesen Kindern ein familiärer Rahmen und Geborgenheit fehlte, führte man das sog. „Kinderheim familiären Typs“ ein. Das heißt, ein verheiratetes Ehepaar mit oder ohne eigene Kinder kann abhängig von den eigenen sozialen Verhältnissen ein, zwei oder allenfalls auch mehr elternlose Kinder bei sich aufnehmen. Dafür erhalten sie vom Staat eine gewisse finanzielle Unterstützung für die Kinder, die adoptiert werden können oder als Pflegekinder in der Familie aufwachsen. Viele solcher Familien sind seit 2014 aus dem Gebiet Donezk und anderen Regionen in die Hauptstadt Kyjiw und ins umliegende Gebiet geflohen. Über Sozialdienste wurde uns der Kontakt zu ihnen vermittelt, und wir begannen ihnen zu helfen.

Wie hat „Kinder der Hoffnung“ die Familien unterstützt?
In der ersten Zeit war insbesondere materielle und psychologische Hilfe wichtig. Viele Kinder waren durch Bombardierungen und den Verlust von Angehörigen traumatisiert. Mit fortschreitender Integration der Kinder und ihrer Familien in das neue Umfeld passten wir die Hilfe an. Da in unserer Organisation eine Zeit lang eine Italienerin mitarbeitete und der Präsident unseres Stiftungsrats, Konstantin Sigov, gute Kontakte in verschiedene europäische Länder pflegt, konnten wir zunächst Sommerlager für die Kinder in der Nähe von Mailand, später auch in Frankreich und Deutschland organisieren. In den letzten Jahren führten wir ein- bis zweiwöchige Lagerwochen in der Karpatenukraine durch. Der Konflikt im Donbass war damals noch lokaler Natur, im Westen unseres Landes war die Lage ungefährlich. 
Außerdem begannen wir unsere Unterstützung zu systematisieren: Zweimal die Woche organisierten wir Freizeitbeschäftigungen in separaten Gruppen für die jüngeren und älteren Kinder. Lange Zeit konnten wir dafür kostenlos die Räume einer röm.-kath. Kirchgemeinde im Zentrum von Kyjiw nutzen. Wir boten gestalterische und Bewegungsaktivitäten wie auch Aufgabenhilfe an. Für die psychologische Unterstützung arbeiten wir mit geschulten Psycholog:innen zusammen. Die Eltern der Kinder werden dabei mit einbezogen, denn nur mit einem auf die ganze Familie ausgerichteten Ansatz kann eine nachhaltige Entwicklung gewährleistet werden. In den Sommermonaten renovierten wir im malerisch gelegenen Dorf Lischnja, rund 50 km westlich von Kyjiw bei der Kirche eines befreundeten orthodoxen Archimandriten mehrere Räume. Dort verbrachten die Kinder anschließend einen Teil ihrer Sommerferien. Mit Ausnahme der Pandemie-Zeit gab es auch an den Wochenenden Ausflüge. So wollten wir den Kindern die Geschichte und Kultur der Ukraine mit ihren verschiedenen Regionen nahe zu bringen. Mit der Zeit arbeiteten wir nicht nur mit Kindern von intern Vertriebenen aus den Gebieten Luhansk und Donezk, sondern nahmen auch Mädchen und Jungen aus dem Gebiet Kyjiw in die Gruppen auf. Einige stammten aus kinderreichen Familien, andere hatten ihren Vater und manche auch ihre Mutter im Krieg verloren. Zentral war für uns, die Gesellschaft nicht zu zersplittern, sondern zu zeigen, dass die Kinder aus den östlichen Landesteilen jenen in der Hauptstadt gleichgestellt sind.

Wie hat sich Ihre Arbeit seit dem 24. Februar verändert?
Das Umfeld unserer Arbeit ist seither vollkommen anders. Einerseits gibt es viele Menschen, die helfen wollen. Andererseits sind unsere Mitarbeitenden nun herausgefordert, ihre Arbeit an ganz verschiedenen Orten fortzusetzen. Im Februar reiste ich nach Österreich, um dort Skiferien zu verbringen, als kurz darauf der Krieg ausbrach. Mit meiner Frau zog ich danach zu Freunden in Polen, wo wir seither leben. Eine unserer Mitarbeiterinnen floh zu ihrer Schwester nach Hamburg, eine weitere fand mit ihrer Familie im Gebiet Lviv Zuflucht. Einige Mitarbeitende sind mit ihren Familien in Kyjiw geblieben. Dadurch ist die Koordination unserer Tätigkeit wesentlich erschwert, mit Hilfe des Internets jedoch möglich. Wir beschlossen, unseren Vertreter:innen vor Ort mehr Verantwortung zu übergeben, verbinden uns jedoch immer wieder bewusst über gemeinsame Aktionen. So haben wir an Pfingsten, das in allen orthodoxen Kirchen ein sehr populärer Feiertag ist, an unseren neuen Standorten in Polen, Bulgarien und Kyjiw nach dem Gottesdienst den betreuten Kindern und Familien humanitäre Güter verteilt und kleine Geschenke gemacht. Insbesondere in Kyjiw haben wir dabei auch Kontakt zu neuen Flüchtlingen geknüpft, damit wir dort unsere Aktivitäten wieder aufnehmen können, soweit dies aktuell möglich ist.

Wie stark sind der Schulbesuch und das Spielen für Kinder dort aktuell eingeschränkt?
Die Schulen können zwar besucht werden, doch bis auf weiteres ausschließlich online. Die Regelungen dazu erlässt das ukrainische Bildungsministerium. Das Spielen draußen untersteht der Verantwortung der Eltern. Sobald die Sirenen ertönen, müssen Schutzräume aufgesucht werden. In ländlichen Gebieten gibt es mehr Bewegungsfreiheit. Es ist jedoch verboten in den Wald zu gehen, denn dort können gefährliche Minen oder Sprengkörper liegen. Bis zu einer flächendeckenden Entminung können die Menschen also nicht im Wald Pilze oder Beeren sammeln und so zur Selbstversorgung beitragen. In Kyjiw können wir zum Glück an einem unserer Standorte Beschäftigungen für die Kinder nach Gottesdiensten anbieten, da es in unmittelbarer Nähe einen Luftschutzkeller gibt.

Wohin sind die von „Kinder der Hoffnung“ unterstützten Familien geflohen?
Ungefähr zehn Familien sind mit ihren Kindern nach Italien geflohen, da sie bereits Kontakte dorthin hatten. Unsere Mitarbeiterin Tatjana Antonova konnte bei Kriegsbeginn mit ihrer Familie nach Bulgarien ziehen. Dort arbeitet ihre Mutter bei einer IT-Firma, die seit längerem Partner unserer Organisation ist und die ihren Standort von Kyjiw nach Varna verlegt hat. Tatjana baut nun in Varna die Unterstützung von neuangekommenen Flüchtlingskindern und ihren Müttern auf. Mehrere vollgepackte Busse aus den besonders heftig umkämpften Gebieten von Mariupol, Charkiv und Izjum sind bisher dort eingetroffen. Schon bald waren es über 300 Geflüchtete. In Bulgarien waren die Temperaturen im Frühjahr bereits angenehm, doch ist das Land selbst arm, so dass der Staat den Geflüchteten kaum Unterstützung leisten kann. Die erwähnte IT-Firma hat noch eine weitere Filiale in Polen eröffnet, so dass dank der logistischen Hilfe der Firma ein Teil der Flüchtlingsfamilien nach Polen weiterreisen konnte. Doch Tatjana ist in Bulgarien geblieben und organisiert dort humanitäre Hilfe wie Kleiderspenden und Mahlzeiten. Sie hat uns kürzlich geschrieben, dass sie mit Geldspenden unserer Organisation in großen Pfannen Hühnerbouillon kochen wollen, damit jedes der 70 Flüchtlingskinder wenigstens einmal am Tag einen Teller Suppe zu essen hat.

Gibt es noch weitere Zufluchtsregionen?
Rund zehn Erwachsene und mehrere Kinder leben in Chotjanivka in der Nähe von Kyjiw. Mit diesem Dorf und seiner angrenzenden großen Datscha-Siedlung ist unsere Organisation stark verbunden. Dort haben wir eine Kirche gebaut und führen Gottesdienste durch. Ein weiterer Wirkungsort ist Rybnik in Südpolen, wo ich mich momentan befinde. Die Stadt Rybnik liegt in Schlesien, unweit von Katowice. Wir suchten zunächst Anschluss an eine russisch-orthodoxe Kirchgemeinde. Doch hat uns dort unangenehm berührt, dass der leitende Priester während der Liturgie kein einziges Mal den Krieg erwähnte, keine mitfühlenden Worte äußerte und auch keine Friedensgebete sprach. Ganz anders ist die Situation in vielen römisch-katholischen und griechisch-katholischen Kirchgemeinden in Polen. Hier gibt es Kollekten, Benefizkonzerte und Gebete für den Frieden. Daher begannen wir sonntags die griechisch-katholische Kirche von Katowice zu besuchen, wo für die Flüchtlinge auch Gottesdienste in ukrainischer Sprache abgehalten werden. Zu Ostern waren rund tausend Menschen versammelt, die Hälfte davon außerhalb der Kirche, da nicht alle Gläubigen in der Kirche Platz fanden. Aktuell planen wir für die ukrainischen Flüchtlingskinder in Polen und Bulgarien Freizeitprogramme, darunter Sprachkurse in Ukrainisch. Mit den Kursen möchten wir dazu beitragen, dass die Flüchtlingskinder ihre Sprache bewahren.

Was sind die dringendsten Bedürfnisse der Familien und Ihrer NGO?
Momentan wird in erster Linie materielle Hilfe benötigt, das heißt Lebensmittel und Kleider. Wo dies möglich ist, organisieren wir auch psychologische Unterstützung. In Kyjiw steht uns eine Gruppe von Freiwilligen zur Seite, die Lebensmittel, Medikamente oder andere dringend benötigte Produkte zu betagten oder behinderten Bedürftigen bringen. Unser Zufluchtsort Chotjanivka war einige Monate weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten, da die Zugangsbrücke durch Beschuss zerstört worden war. Die freiwilligen Helfer trieben jedoch ein Boot auf und brachten so die Produkte zu den Empfängern.

Zu den bereits zum zweiten Mal Geflüchteten zählt auch die zehnjährige Melania aus Mariupol, die „Kinder der Hoffnung“ seit 2015 unterstützt. Wie geht es dem Mädchen heute?
Melanias Familie geriet 2015 in ihrer Heimatstadt Mariupol unter Beschuss, dabei kam ihre Mutter um und Melania selbst verlor ein Bein. Die Großmutter floh mit dem damals dreijährigen Mädchen nach Kyjiw. Melanias Tante Alexandra blieb in Mariupol. Im jetzigen Krieg verbrachte Alexandra mit ihrem zweijährigen Sohn 17 Tage im Luftschutzkeller. Danach gelang es ihr mit dem Auto zu fliehen. Russische Soldaten hielten sie an einem Checkpoint auf. In diesem Moment war völlig ungewiss, ob sie erschossen, durchgelassen oder zurückgeschickt würden. Schließlich ließ man sie weiterfahren. Eine Granate schlug in der Nähe ein und verursachte eine große Druckwelle, die das Auto beschädigte. Doch Gott sei Dank gelang Alexandra mit ihrem Sohn die Flucht, und nun leben sie in Bratislava. 
Die Flucht von Alexandras Mann aus Mariupol gestaltete sich sehr gefährlich. Er fuhr mit einem Auto über die russische Grenze, da man ihn Richtung Westen nicht passieren ließ. Im Gebiet Rostov wurde er zwölf Tage in einem sog. Filtrationslager festgehalten, wobei vollkommen ungewiss ist, ob man ein solches Lager auch wieder verlassen kann. Lange Zeit hatten wir keinen Kontakt zu ihm. Als er schließlich freigelassen wurde, setzte er seine Flucht Richtung Georgien fort. An der Grenze zu Georgien befragten ihn die russischen Grenzbeamten die ganze Nacht. Danach setzte man einen Stempel in seinen Pass, der ihm jede künftige Einreise nach Russland verbietet. Von Georgien gelangte er über eine weitere Odyssee durch die Türkei und Bulgarien in die Slowakei, wo er endlich seine Familie wieder sah.
Die slowakischen Behörden unterstützen Alexandras Familie, indem sie die Miete ihrer Wohnung bezahlen. Dort lebt nun die ganze Familie: Melania und die Großmutter, sowie Alexandra mit ihrem Mann und dem kleinen Jungen. Alexandra ist für Melania zu einer Art zweiten Mutter geworden. Wir hoffen, dass Melania bald regelmäßig zum Schwimmunterricht gehen kann. Für eine gesunde Entwicklung ihrer Wirbelsäule ist das besonders wichtig. Melania hat eine Beinprothese, die von Zeit zu Zeit in einer nahen Klinik neu hergestellt und angepasst werden muss, da das Bein wächst.

Haben Sie noch Kontakt nach Russland? Welche Schritte in Richtung Frieden und Versöhnung sind momentan möglich?
Mein älterer Bruder wuchs die ersten 25 Jahre seines Lebens in der Ukraine auf. Seit 40 Jahren lebt er aber nun in der Nähe von Moskau und hat die russische Staatsbürgerschaft angenommen. Obwohl er die Ukraine kennt, versteht er unsere Probleme nicht. Es ist für mich schwierig, mit ihm eine gemeinsame Sprache zu finden. Offensichtlich ist er stark der staatlichen Propaganda unterworfen. Wir telefonierten zumeist nur an Geburtstagen miteinander und vermieden, zumindest vor dem Krieg, politische Themen. Im September letzten Jahres antwortete er auf meine Frage, wie es ihm gehe: „Du siehst ja, dass auf der ganzen Welt der Nazismus zunimmt“. Die russische Bevölkerung wird dazu erzogen, auf der ganzen Welt Feinde zu sehen und lebt in der Erwartung, dass wir uns im nächsten Moment auf sie stürzen werden. Als am 24. Februar der Angriff von russischer Seite begann, wurde uns vorgeworfen, dass wir mit der Gewalt angefangen hätten. Wir leben also in verschiedenen Realitäten. Bei einem Telefongespräch mit meinem Bruder fragte ich ihn: „Wisst ihr denn nicht, dass Kyjiw bombardiert wird, dass uns Panzer beschießen und Menschen töten?“ Seine Antwort war: „Und woher hast Du diese Information?“ Wenn man solch eine Antwort bekommt, ist es verständlich, dass es zumindest zum jetzigen Zeitpunkt kaum Berührungspunkte gibt.
Im Hinblick auf eine künftige Versöhnung sind jene Voraussetzungen unabdingbar, die bei jedem Verbrechen gelten. Der Täter muss erstens bestraft werden, zweitens muss er sein Verbrechen erkennen. Danach kann von einer Versöhnung gesprochen werden. Falls diese Voraussetzungen fehlen und ich vorzeitig mit einer Friedensfahne aus dem Schützengraben heraustrete, werde ich erschossen und die Sache ist damit beendet. In der jetzigen Lage Friedensverhandlungen mit Putin zu verlangen, wäre ein Zeitverlust, währenddessen Putins Regierung neue Waffen an die Grenze führt. Meiner Ansicht nach sind jene Russinnen und Russen nicht für den Krieg verantwortlich, die öffentlich protestieren oder ihr Land verlassen haben. Wer jedoch schweigt und glaubt, dass er dadurch nicht beteiligt war, wird erkennen müssen, dass er trotz allem eine moralische Verantwortung für die Ereignisse trägt. Im Moment sind viele noch überzeugt, dass sie im Recht seien. Wobei dies einzig in ihrer bequemen Schein-Welt der Fall ist, in der Geld verdient und Urlaub gemacht werden kann, während andernorts Städte bombardiert werden, ohne dass dies zur Kenntnis genommen werden muss. Vor kurzem sagte Michail Leontiev, ein Sprecher von Rosneft und Propagandist, in einer Sendung im russischen Staatsfernsehen, dass Hitler ein großer Stratege gewesen sei. Es sei jedoch sein Fehler gewesen, dass er erst im Jahr 1942 und damit zu spät die allgemeine Mobilmachung ausgerufen habe. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren in Deutschland enorme Anstrengungen notwendig, um weiten Teilen der indoktrinierten Bevölkerung begreiflich zu machen, welche Untaten das NS-Regime begangen hatte. Ähnlich breit werden auch die Bemühungen in Russland sein müssen.


Sie können die Arbeit von „Kinder der Hoffnung“ mit einer Spende auf das Konto von Forum RGOW (IBAN CH22 0900 0000 8001 51780) mit dem Vermerk „Kinder der Hoffnung“ unterstützen.

pdfRGOW 7/2022, S. 32–34

Bild: Kinder der Hoffnung