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Vorbild für ganz Russland - Suchthilfe des Fonds "Diakonia"

Regula Spalinger im Gespräch mit Elena Rydalevskaja

Der Fonds „Diakonia“ aus St. Petersburg zählt zu den erfahrensten Organisationen im Bereich der Drogenrehabilitation in Russland. Im Team von „Diakonia“ arbeiten sowohl Fachleute als auch ehemalige Drogenabhängige als Konsulenten mit. In den letzten Jahren hat der Fonds sein Weiterbildungsprogramm ausgebaut, zu dem Teilnehmer aus allen Regionen Russlands anreisen. Dringend erforderlich ist der Ausbau eines Rehabilitationszentrums, wie Elena Rydalevskaja, die Leiterin des Fonds „Diakonia“, im Gespräch mit Regula Spalinger berichtet.

G2W: Der Fonds „Diakonia“ wurde 1991 von orthodoxen, katholischen und evangelischen Kirchgemeinden in St. Petersburg gegründet. Wie stark prägt der ökumenische Gedanke die Arbeit von „Diakonia“?
Elena Rydalevskaja
: Der ökumenische Gedanke ist weiterhin in unserer Arbeit präsent. Er steht jedoch weniger im Vordergrund, als dies anfangs der Fall war. Damals handelte es sich bei „Diakonia“ um die Kombination sozialer Projekte verschiedener in St. Petersburg ansässiger Kirchen. 2009 wurde der Wohltätigkeitsfonds „Diakonia“ in seiner heutigen eigenständigen juristischen Form gegründet; seither besteht ein starker Bezug zur Russischen Orthodoxen Kirche. In unserem Vorstand sind jedoch nach wie vor Repräsentanten unterschiedlicher Kirchen vertreten. Außerdem treffen sich Repräsentanten aller in St. Petersburg vertretenen Kirchen zweimal im Jahr, um sich über soziale Themen und kirchliche Sozialarbeit auszutauschen. Seit langem pflegen wir zudem einen regelmäßigen Austausch mit den Sozialarbeitern der evangelischen Kirche in St. Petersburg. Jedes Jahr zum 1. Dezember, dem Welt-AIDS-Tag, führen wir verschiedene Aktionen durch. Dazu gehört traditionell auch ein Konzert in der großen lutherischen Sankt-Petri-Kirche am Nevskij-Prospekt.

Wie gestaltet sich der Rehabilitationsprozess bei „Diakonia“?
Zunächst durchlaufen die Drogensüchtigen einen fachlich begleiteten Entzug in einer stationären bzw. ambulanten Einrichtung der Stadt St. Peterburg oder einer anderen Region. Wir unterhalten mit vielen solcher Fachstellen Partnerschaften. Diese überweisen dann die Rehabilitanden an uns, die mittlerweile aus 40 verschiedenen Regionen Russlands und sogar aus der Ukraine kommen. Die erste Phase der Rehabilitation findet in unseren Zentren in Sologubovka (50 km von St. Petersburg) oder in Poschitni (Region Pskov) statt. Beide Zentren befinden sich in einer ländlichen Gegend, weit weg vom Drogenhandel. Während dieser sechs Monate dauernden Phase sind die Rehabilitanden in den strukturierten Tagesablauf des angeschlossenen landwirtschaftlichen Betriebs integriert. Psychotherapeutische Gespräche und die Anleitung zur Selbstreflexion, sowohl in Tagebuchform als auch in der Gruppe, begleiten unser Programm. Dazu kommen künstlerische Aktivitäten wie gemeinsam eingeübte Theateraufführungen. Zu solchen Anlässen werden auch die Angehörigen eingeladen. Für die zweite Rehabilitationsphase wechseln die Rehabilitanden in eine unserer Sozialwohnungen auf der Petrograder Seite von St. Petersburg. Diese Wohngemeinschaften werden von Fachleuten betreut. Die in den meisten Fällen sechs Monate dauernde Phase dient der Resozialisierung und beinhaltet weiterhin psychologische Hilfe, z. B. durch das Erlernen von Techniken zur Rückfall-Prophylaxe. Weitere wichtige Schritte sind die Vorbereitung der sozialen Integration, der Wiedereinstieg ins Arbeitsleben und die Wohnungssuche, bei der wir die Rehabilitanden unterstützen. Eine wichtige Rolle spielt auch die begleitende Arbeit mit der Familie und dem nächsten Umfeld des Rehabilitanden.

Wie unterstützt „Diakonia“ die Rehabilitanden beim Wiedereinstieg ins Arbeitsleben?
Der Prozess des Wiedereintritts in das Arbeitsleben beginnt buchstäblich mit dem ersten Tag der Rehabilitation. Denn bereits ab diesem Zeitpunkt ist der Arbeitstag der Rehabilitanden in unseren Zentren voll und sie müssen sich entsprechende Gewohnheiten aneignen. Mit dem Bezug der Sozialwohnung in St. Petersburg erfolgt also lediglich die nächste folgerichtige Etappe: die Stellensuche auf dem öffentlichen Arbeitsmarkt. Unterstützt durch unsere Betreuer und das Arbeitsamt finden erfahrungsgemäß alle Rehabilitanden nach Ablauf des ersten Monats eine Arbeitsstelle.

Wie arbeiten sie mit den Familien der Drogensüchtigen zusammen?
Vor wenigen Jahren kamen zu unseren Gesprächsgruppen für Angehörige durchschnittlich zwölf Personen, heute sind es im Schnitt 20. Aktuell besuchen über 120 Personen pro Jahr eine unserer Gruppen für Co-Abhängige. Wir führen fachliche Trainings mit ihnen durch und haben im vergangenen Jahr ein eigenes Programm zu dieser Thematik erarbeitet. Dazu zählen Übungen, die Eltern lehren, in bestimmten Situationen Nein zu sagen, womit die meisten Eltern große Schwierigkeiten haben. Da die Trainings immer in einem unserer beiden Rehabilitationszentren stattfinden, besteht auch die Möglichkeit, einen der Rehabilitanden hinzuzurufen. Die Eltern können bei dieser Gelegenheit Fragen stellen: beispielsweise wie Angehörige die Gesundung behindern oder sie fördern können.

Unterscheidet sich das Rehabilitationskonzept von „Diakonia“ von vergleichbaren russischen Einrichtungen?
Wir arbeiten nach einer adaptierten Version des bekannten 12-Schritte-Programms. Unser Team besteht aus Fachleuten wie Drogenfachärzten, Psychologen, Sozialarbeitern und Familientherapeuten, die sich laufend weiterbilden. Im Gegensatz zu anderen Einrichtungen führen wir auch interne Schulungen durch. Die verschiedenen Fachkenntnisse und der intensive Austausch im Team sind entscheidend für den Erfolg des Konzepts. Auf Wunsch des Rehabilitanden besteht auch die Möglichkeit, religiöse und andere Fragen mit den mit uns zusammenarbeitenden Geistlichen der Russischen Orthodoxen Kirche zu besprechen. Eine wichtige Stütze ist außerdem das ständige Team an Konsulenten – ehemalige Drogensüchtige, die erfolgreich eine Rehabilitation abgeschlossen haben und seither ein nüchternes Leben führen. Deren Vorbild und Engagement gibt den Rehabilitanden Kraft, den Weg in die Nüchternheit zu gehen. Die meisten Konsulenten arbeiten Teilzeit, einzelne auch Vollzeit. Erfreulicherweise ist in den vergangenen Jahren praktisch keiner der Konsulenten wieder in die Anhängigkeit gerutscht. Viele von ihnen absolvieren sogar noch eine Ausbildung oder Weiterbildung parallel zu ihrem Beruf. Alle sind an einer persönlichen Weiterentwicklung interessiert und setzen sich für andere ein. So kehren die Wärme und das Vertrauen, die bei uns herrschen, zu uns zurück.

Seit 2015 ist der Fonds „Diakonia“ Partner des städtischen Komitees für Sozialpolitik. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit?
Für die Entwicklung unserer Organisation ist es ein wichtiger Schritt, dass wir als Nichtregierungsorganisation Partner des Komitees für Sozialpolitik der Stadt St. Petersburg und des ihm unterstellten Didaktik-Zentrums Semja („Familie“) geworden sind. Diese Zusammenarbeit hat sich im Verlauf des vergangenen Jahres verstärkt. Beispielsweise wirke ich nun in der Gruppe zur Bekämpfung der Drogenabhängigkeit im Zentralen Bezirk von St. Petersburg mit. Eine Sitzung dieser Kommission, die sich aus Vertretern der städtischen Behörden, der Staatsanwaltschaft, der Polizei, der Suchthilfe-Beratungsstelle und Amtsvormundschaft des Bezirks zusammensetzt, wird im Rehabilitationszentrum Sologubovka stattfinden. Das Komitee für Sozialpolitik hat sich dabei lobend über unsere Tätigkeit ausgesprochen. Bei meiner Unterrichtstätigkeit in verschiedenen Regionen Russlands stelle ich immer wieder fest, dass ein großer Vorteil unserer Organisation in der nichtkommerziellen Ausrichtung liegt. Unser Anliegen ist in jedem Moment das Wohl des Rehabilitanden, nicht ein Gewinn. Dagegen tangieren in kostenpflichtigen Rehabilitationseinrichtungen unweigerlich auch finanzielle Interessen die Arbeit. Unsere wohltätige Ausrichtung, gepaart mit Professionalität – wie ausgebildetes Fachpersonal, genau definierte Aufgabengebiete sowie eine lückenlose Dokumentation, statistische Auswertungen und eine solide Finanzplanung – machen vermutlich unseren Erfolg aus.

Im Rehabilitationszentrum in Sologubovka wurde vor zwei Jahren ein Weiterbildungszentrum eröffnet. Wer nimmt an den dortigen Seminaren teil?
Der Teilnehmerkreis unserer Weiterbildungsveranstaltungen erweitert sich ständig. So haben wir im vergangenen Jahr für das Didaktik-Zentrum Semja einen Fortbildungskurs zur Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen durchgeführt, der sich an Mitarbeitende sozialer Dienste und Suchthilfestellen richtete. Teil dieses Auftrags war, vorausgehend ein eigens konzipiertes, 90-seitiges Kurshandbuch zu verfassen. Die Weiterbildung selbst wurde in drei Seminarblöcken durchgeführt. Ein Teil davon fand in unserem Zentrum in Sologubovka statt. Zum Abschluss wurden den 26 Teilnehmenden staatlich anerkannte Weiterbildungszertifikate für den Bereich Sozialarbeit ausgehändigt. Gegenwärtig läuft ein Lehrgang für in der Drogenhilfe tätige Fachleute aus zwölf Regionen Russlands. Auch zum Abschluss dieses Lehrgangs erhalten die Teilnehmenden Zertifikate des Didaktik-Zentrums. Da das Interesse an unseren Seminaren ständig wächst, mussten wir eine maximale Teilnehmerzahl pro Anlass festsetzen. Dazu kommen die Weiterbildungen, die Nikolaj Ekimov, der Leiter unseres Weiterbildungszentrums, und ich in anderen russischen Städten von Kaliningrad im äußersten Westen bis Blagoveschtschensk im Fernen Osten durchführen.

Im Zentrum von Poschitni stehen 2017 Umbauarbeiten an. Was muss erneuert werden?
Im Gegensatz zu den vor wenigen Jahren entstandenen schönen Holzgebäuden in Sologubovka erinnern die nüchternen, älteren Backsteinhäuser in Poschitni an die Sowjetzeit. Über dem heutigen Essraum könnte man jedoch gut ein weiteres Stockwerk bauen. Wir haben uns mit Architekten beraten und sind zum Schluss gekommen, dass man die Erhöhung jenes Gebäudes mit der Errichtung eines liturgischen Raumes verbinden könnte. Denn eine Kirche oder Kapelle wie in Sologubovka gibt es in der kleinen Siedlung Poschitni bisher nicht. Auch das Nebengebäude möchten wir in die Erneuerungsarbeiten einbeziehen. Durch diese baulichen Maßnahmen erhalten wir mehr Zimmer und könnten somit mehr Rehabilitanden aufnehmen. Wir würden also gleichzeitig praktischere, etwas größere Gebäude und einen Kirchenraum im Stil der Region Pskov (an der Grenze zu Estland, Anm. RS), wo unser Rehabilitationszentrum Poschitni liegt, erhalten. Nun hoffen wir, dass es uns gelingt, in den nächsten ein bis zwei Jahren die benötigten Spendengelder zusammenzutragen.

pdfRGOW 2/2017, S. 28-29

Bild: Fonds Diakonia