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Interview mit Alexej und Larissa A.

Regula Spalinger im Gespräch mit Elena Rydalevskaja und dem Ehepaar Alexej und Larissa A.

Larissa und Alexej A. haben sich während der Drogenrehabilitation kennengelernt (im Bild links mit ihrem Sohn Ivan). Im Gespräch mit Regula Spalinger, der Projektverantwortlichen von G2W, erzählen sie von ihrem Lebensweg. Der Fonds „Diakonia“ in St. Petersburg unterhält zwei Rehabilitationszentren für Drogenkranke und begleitet die Drogenabhängigen beim Ausstieg aus der Sucht. Die Programme von „Diakonia“ sind so erfolgreich, dass sie ausgeweitet und von Seiten des Staates unterstützt werden sollen, wie Elena Rydalevskaja, die Leiterin des Fonds „Diakonia“ (im Bild 2.v.r.) betont.

G2W: Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Was waren 2015 die wichtigsten Ereignisse für Ihre Organisation?
Elena Rydalevskaja:
Die wichtigste Neuerung bezüglich der Rolle unserer Organisation in der Öffentlichkeit war vermutlich, dass wir in das offizielle Register der Anbieter von Sozialen Diensten der Stadt St. Petersburg aufgenommen wurden. Das bedeutet, dass wir heute auf gleicher Ebene mit anderen städtischen Einrichtungen der Sozialen Fürsorge stehen und nun auch staatliche Finanzierungsbeiträge beantragen können. Die Aufnahme in das Register wie auch der Umstand, dass wir ab diesem Jahr als Dienstleister der Stadt figurieren, war ein Entscheid des Komitees für Sozialpolitik (Anm. der Red.: Sozialamt von St. Petersburg). Deshalb hoffen wir, dass wir ab kommendem Jahr einen regelmäßigeren Finanzbeitrag aus dem städtischen Budget erhalten werden.
Ein weiteres wichtiges Ereignis war, dass ich als Mitglied einer Delegation der Stadt St. Petersburg in Pskov war, das 260 km südwestlich von hier liegt. Zur Delegation gehörten der Vizegouverneur unserer Stadt sowie Vertreter verschiedener Fachgremien für Gesundheits- und Sozialpolitik. An einem runden Tisch mit Abgeordneten beider Städte konnte ich unsere Arbeit vorstellen, anschließend besuchte eine Delegiertengruppe auch unser Rehabilitationszentrum in Poschitni im Gebiet von Pskov. Dies ist ebenfalls als Anerkennung der Effizienz unserer Tätigkeit von staatlicher Seite zu verstehen. In Pskov unterhalten wir gute Kontakte zu den Behörden dieser Region, so dass wir in diesem Jahr Unterstützungsbeiträge für den Betrieb des Zentrums in Poschitni erhalten haben.

Das bedeutet, Sie sind als NGO zu Partnern der staatlichen Strukturen geworden?
Ja. Zudem lässt sich noch folgendes interessantes Ereignis berichten: Nach St. Petersburg kam eine Delegation aus Velikij Novgorod, die darum bat, sich mit den Vertretern der städtischen Behörden für Sozialpolitik in unserem neu eingerichteten Seminarzentrum in Sologubovka treffen zu können. Dort befindet sich auch unser neueres zweites Rehabilitationszentrum. Das Treffen fand tatsächlich in Sologubovka statt; im Anschluss daran machte uns die Novgoroder Administration den Vorschlag, auch bei ihnen eine Reha-Einrichtung aufzubauen. So sind wir gegenwärtig daran, die Voraussetzungen für die Gründung eines dritten Rehabilitationszentrums im Novgoroder Gebiet zu evaluieren, das im kommenden Jahr seine Arbeit aufnehmen soll.

Sie haben Ihr fachliches Weiterbildungszentrum in Sologubovka erwähnt, das im Februar 2015 eröffnet wurde. Wie entwickelt sich dieses sog. Ressourcenzentrum?
Das Ressourcenzentrum erlebt eine große Nachfrage. Wir führen dort einerseits Weiterbildungsveranstaltungen mit Unterstützung des zuständigen Komitees des Leningrader Gebiets durch. Andererseits gibt uns die Synodalabteilung für kirchliche Wohltätigkeit und Sozialdienste regelmäßig Aufträge zur Durchführung von Seminaren und Trainings, zu denen Fachleute aus ganz Russland kommen. Darunter auch Kollegen und Rehabilitanden, d. h. ehemalige Drogensüchtige aus sehr entfernten Regionen, beispielsweise aus Novosibirsk oder Tjumen in Sibirien. Dabei freut mich besonders, dass allmählich ein Dialog zwischen den Behördenvertretern für Sozial- und Gesundheitsfürsorge, NGOs wie der unsrigen und im sozialen Bereich tätigen Geistlichen in den Gang kommt. Bisher gab es auf dem Gebiet der Drogenrehabilitation nur wenig Austausch oder praktische Zusammenarbeit.

Interview mit Alexej und Larissa A.

G2W: Wie haben Sie sich kennengelernt?
Larissa:
Wir haben uns zum ersten Mal bei einer Versammlung der Anonymen Drogensüchtigen getroffen. Dort ergriff ich die Initiative und sprach Alexej an. Wie sich aus der Freundschaft Liebe entwickelte, war jedoch für mich selbst überraschend. Vor wenigen Monaten haben wir geheiratet. Hätte es in unserem Leben jene Dinge (die Drogen) nicht gegeben, wären wir uns vermutlich nie begegnet. Denn ich habe mein ganzes Leben in St. Petersburg verbracht, Alexej dagegen ist aus Novosibirsk.

Alexej: Meine Mutter, mein Vater und auch ein jüngerer Bruder wohnen nach wie vor dort. Mein älterer Bruder ist leider gestorben; er konsumierte ebenfalls Drogen. Ich selbst nahm verschiedene Anläufe, um von den Drogen weg zu kommen. Zuerst im Alexander Nevskij-Kloster von Novosibirsk; doch nach Absolvierung des dortigen Programms hatte ich gleich zwei Monate später einen Rückfall. Das zweite Mal, nachdem ich den Hauptteil des Programms erneut durchlaufen hatte, schlug mir der Leiter vor, in St. Petersburg beim Fonds „Diakonia“ die Ausbildung zum Konsultanten zu absolvieren und danach als Mitarbeiter ins Novosibirsker Zentrum zurückzukehren. Dazu musste ich allerdings zunächst den ganzen Rehabilitationskurs hier in Sologubovka abschließen. Während der Schlussphase in St. Petersburg, dem begleiteten Wohnen, habe ich Larissa kennengelernt und danach haben sich die Pläne geändert.

Haben Sie ebenfalls am Rehabilitationsprogramm von „Diakonia“ teilgenommen?
Larissa:
Nein, es war allerdings auch ein Programm, das nach dem Prinzip der „Zwölf Schritte“ ablief. Es war schwieriger als bei „Diakonia“, da wir nicht isoliert von der Stadt lebten. Die Hinwendung zu Gott begann ebenfalls langsam in dieser Zeit, mit Gottesdienstbesuchen und Gesprächen mit einem Geistlichen. Später besuchte ich mit Alexej Sologubovka und wir trafen regelmäßig Vater Alexander (Sacharov), den dortigen Priester. Ich durchlief die Rehabilitation etwas früher als Alexej. So beträgt bei mir die saubere Zeit sechs Jahre, bei Alexej sind es bald drei Jahre.

Hatten Sie Zweifel, ob Sie überhaupt am Rehabilitationsprogramm teilnehmen sollen?
Alexej:
Ich hatte gar keine andere Wahl. Zweifel sind natürlich immer da, umso mehr als ich zuletzt in Novosibirsk sogenannte „Salze“, d. h. synthetische Designerdrogen konsumiert hatte, die eine starke Abhängigkeit und schwere Nebenwirkungen hervorrufen. Diese Drogen verursachen Halluzinationen und lassen dich mehrere Nächte hintereinander nicht schlafen. Man sagt, dass die Drogen aus China stammen, aber mir scheint, dass sie auch in Russland hergestellt werden. Sie sind vergleichsweise billig. Und sie bringen alle im Innern vorhandenen Ängste zum Vorschein. So glaubte ich einmal, dass mich die Polizei verfolge. Zum Schluss war ich in einem solchen Delirium, dass ich scheinbar vor der Polizei in eine Apotheke flüchtete und dachte, jetzt kaufe ich mir Spritzen, nehme eine Überdosis Heroin, dann fassen sie mich nicht, und ich sterbe einfach. Doch im Laden hielt man mich hin, später kamen zwei Polizisten herein, die man gerufen hatte. Und die Apotheke – so sehr war ich schon verwirrt – war gar keine Apotheke, sondern ein Optikergeschäft. In Untersuchungshaft versuchte ich Drogen zu sniffen, um so zu einer Überdosis zu kommen. Darauf brachte man mich ins Krankenhaus. Als ich dort entlassen wurde, stellte mich meine Mutter vor ein Ultimatum, und Gott sei Dank wählte ich die Rehabilitation.
Mir gefiel am Fonds „Diakonia“, dass man hier konsequent war und psychologisch gearbeitet wurde. Es gibt immer die Versuchung sich einzureden, dass man aus irgendeinem Grund nicht schuld sei. Hier wurde hingegen erklärt, dass ich mich nicht herausreden soll, sondern mein Problem anerkennen muss. So lässt man die Teilnehmer des „12-Schritte-Programms“ einen Schritt nach dem anderen tun. In Novosibirsk hatte ich mir dagegen immer noch ein Hintertürchen offen gelassen: Ich glaubte z. B., mich betrinken zu können, da es schließlich auch Geistliche gebe, die trinken. Beim Programm des Fonds „Diakonia“ erkannte ich meine Machtlosigkeit gegenüber dem Alkohol. Denn wenn ich damit angefangen hätte, hätte ich allmählich doch wieder etwas Stärkeres gebraucht, und alles hätte wieder von vorn begonnen.

Wie verlief Ihre Suchtgeschichte?
Larissa: Zuerst nahm ich Opium, dann Heroin. Ich kam aus einer anderen Stadt nach Petersburg. Gefängnisaufenthalte wegen Drogenkonsums halfen nichts, danach fing alles wieder von vorne an. Mir schien damals, dass mein Leben gesichtslos würde, wenn ich aufhörte Drogen zu nehmen. Ich war ehrlich überzeugt, dass dann mein Leben keinen Sinn mehr hat. Ich hörte zwar, dass es die Anonymen Drogensüchtigen gibt, doch ich sah keinen Grund dorthin zu gehen. Auch ich unternahm verschiedene Ausstiegsversuche, doch diese waren anfangs erfolglos. Schließlich traf ich in St. Petersburg jemanden auf der Straße, der mir sagte, ihm habe einzig das „12-Schritte-Programm“ geholfen. „Du kannst es ja wenigstens versuchen“, meinte er. Zuerst ging ich mit großer Angst zu den Treffen, denn niemand begleitete mich. Doch aufgrund der klaren Aussagen und Einschätzungen begriff ich bald, dass ich genau am richtigen Ort war. Es waren Menschen wie ich, nur waren sie schon einen Schritt weiter. So verstand ich, dass es einen Ausweg gab. Ich wusste zwar noch nicht wie, aber diese Leute waren nüchtern. Ich nahm danach noch eine lange Zeit Drogen, doch immer mit der Gewissheit, dass es einen Weg gibt. Erst mit 33 Jahren begann ich das Programm, und während der anschließenden zwei Jahre war es für mich sehr schwierig, nüchtern zu bleiben.

Welches Leben führen Sie heute?
Larissa: Heute bin ich 39 Jahre alt. Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, dass mir noch ein kleiner Sohn geboren, dass ich einen Ehemann haben würde. Dass Gott mir eine Familie gegeben hat, ist so überraschend. Ich habe mich nicht einmal anstrengen müssen, meinen Mann zu erobern. Wir fuhren nach Sologubovka zu Vater Alexander und ließen uns trauen. Bis heute fahre ich oft dorthin, es ist ein segensreicher Ort, und es ist wunderbar, dass es dieses Rehabilitationsprogramm für Männer gibt. Schade, dass es dort noch kein Programm für Mädchen und Frauen gibt. Wenn es „Diakonia“ in Zukunft auch für Frauen gäbe, wäre das eine riesige Hilfe.

Was sind Ihre Pläne und Träume für die Zukunft?
Larissa:
Zu unseren Plänen gehören ein eigenes Heim und die Erziehung der Kinder, auch meines älteren Sohnes aus erster Beziehung. Meine Angst vor dem Altern muss ich noch überwinden. Denn mit den Drogen ging die Jugend viel zu schnell vorbei, und so verursacht die Vorstellung von grauen Haaren und Runzeln bei mir Panik. Damit muss ich noch kämpfen, mich auch später im Alter anzunehmen.

Alexej: Auch ich träume von einem eigenen einfachen Haus, wo ich mich um alles Drumherum, den Garten kümmern kann. Vielleicht auch mit eigenen Ziegen. Und natürlich will ich mich um die Erziehung des Kindes kümmern. Ich will das richtig machen, was in meinem eigenen Leben nicht vollkommen gelungen ist, u. a. dass mein Sohn einen Schulabschluss macht, den ich selbst nicht geschafft habe.

Larissa: Du kannst mit ihm die Klassen besuchen, und ich werde zwei Schüler im Haus haben (lachen gemeinsam).

pdfRGOW 12/2015, S. 28-29

Bild: Regula Spalinger