Skip to main content

Acht Millionen Drogenabhängige in Russland brauchen Hilfe

Franziska Rich im Gespräch mit Elena Rydalevskaya

Der karitative Fonds „Diakonia“ in St. Petersburg ist mit seinem Rehabilitationskonzept für Drogenabhängige zu einem Vorbild für viele andere Drogenrehabilitationszentren in Russland geworden. Mit der Leiterin des Fonds, der Drogenärztin Elena Rydalevskaya, hat die Projektbeauftragte von G2W, Franziska Rich, über die gegenwärtigen Herausforderungen im Kampf gegen die Drogensucht in Russland gesprochen.

Bei den diesjährigen Internationalen Weihnachtslesungen, die jedes Jahr von der Russischen Orthodoxen Kirche organisiert werden und eine Austauschplattform für aktive Kirchenmitglieder zu kirchlichen und sozialen Fragen darstellen, widmete sich eine Sektion dem riesigen Problem der Drogenabhängigkeit in Russland. Mit der Russischen Orthodoxen Kirche sind heute 60 Drogenrehabilitationszentren verbunden, die stationär um die 1000 Patienten betreuen. Die Kirche ist bemüht, diese Institutionen besser untereinander zu vernetzen, damit laut Bischof Panteleimon (Schatov), dem Leiter der Synodalabteilung für Wohltätigkeit und soziale Dienste, „jede Person aus jeder Region Russlands, die sich an uns wendet, qualifizierte Hilfe bekommt“.

Einige Drogenrehabilitationszentren, wie etwa diejenigen des von G2W unterstützten überkonfessionell arbeitenden Fonds „Diakonia“ in St. Petersburg, sind juristisch unabhängig und finanziell auf sich selbst gestellt. Der von Drogenärztin Elena Rydalevskaya geleitete Fonds „Diakonia“ hat aber in die Russische Orthodoxe Kirche seine Konzeption der Rehabilitation eingebracht – eine adaptierte Variante des bekannten 12-Schritte-Programms, die in der Kirche jetzt weiter Verbreitung findet.

G2W: Wie würden Sie heute die allgemeine Situation im Bereich Drogensucht und HIV in Russland beschreiben. Gibt es verlässliche Statistiken?

Elena Rydalevskaya: Ich kann Zahlen anführen, die an den diesjährigen Internationalen Weihnachtslesungen von staatlichen Stellen genannt worden sind. Laut Viktor Ivanov, dem Leiter der föderalen Drogenkontrollbehörde, gibt es in Russland acht Millionen Drogenabhängige. Diese Zahl ist deutlich höher als diejenige vom Gesundheits- und Sozialministerium, das lediglich von 2,5 Millionen ausgeht. Bei seinen Berechnungen beruft sich das Ministerium auf die Zahl der staatlich erfassten HIV-Patienten und die Sterbestatistik. Demnach sterben 19% Prozent der Bevölkerung an den Folgen des Rauchens, 13% infolge Alkoholkonsums und nur ein Prozent an der Drogensucht. Nach Ansicht der Drogenkontrollbehörde gibt es jedoch jährlich fast fünfmal mehr Todesfälle infolge von Drogen, rund 100000. Sie sehen, es ist schwierig, eine verlässliche Statistik aufzustellen.

Vielleicht lässt sich die kritische reale Situation mit Hilfe folgender Rechnung besser erahnen: Offiziell gibt es in Russland heute 650000 HIV- bzw. AIDS-Patienten. Erfahrungsgemäß ist die reale Zahl der Infizierten etwa fünfmal höher: sie müsste also mindestens bei drei Millionen liegen. Davon sind über 60% heroinabhängige Drogenkonsumenten. Der gemeinsame Spritzengebrauch ist noch immer der häufigste Weg zur Weitergabe der HIV-Infektion. Heute ändert sich jedoch zunehmend die Struktur des Drogenkonsums. Immer mehr synthetische Drogen überschwemmen den Markt, beispielsweise in Sibirien, aber auch in St. Petersburg. Deshalb muss man davon ausgehen, dass die Zahl von acht Millionen Drogenabhängigen, die die Drogenkontrollbehörde nennt, die reale Situation genauer wiedergibt.

Synthetische Drogen sind weltweit ein sehr großes Problem. Wie wirken sich die neuen Drogen auf ihr Rehabilitationsprogramm aus?
In der Tat machen uns die synthetischen Drogen zu schaffen. Eine erfolgreiche Therapie von Patienten, die von synthetischen Drogen abhängen, gestaltet sich viel schwieriger. Und zu allem Unglück ändern sich diese Drogen ständig: immer neue Stoffe werden erfunden und konsumiert. Den synthetischen Drogen ist gemein, dass sie eine starke Euphorie bei den Konsumenten auslösen und rasch zu Schädigungen des Nervensystems führen können. Heroinkonsum beeinträchtigt wohl das Verhalten der Konsumenten, führt aber nicht zu bleibenden Schäden des Nervensystems und der psychischen Gesundheit. Die regelmäßigen Konsumenten von synthetischen Drogen befinden sich dagegen quasi in einem psychopathischen Zustand, so dass es sehr schwierig ist, mit ihnen ein vernünftiges Gespräch über notwendige Veränderungen ihrer Lebensweise zu führen.

Wie viele Drogenpatienten befinden sich gegenwärtig bei Ihnen in Therapie?
Zurzeit betreuen wir stationär rund um die Uhr 32 Personen: Je zwölf von ihnen befinden sich in den beiden Rehabilitationszentren in Poschitni und Sologubovka, unserem im April 2012 neu geschaffenen zweiten Rehabilitationszentrum. Acht Patienten bereiten sich in den Sozialwohnungen in St. Petersburg, wo wir ihnen nach der sechsmonatigen stationären Therapie für eine gewisse Zeit ein betreutes Wohnen anbieten, auf die Rückkehr in Beruf und Familie vor. Ich darf sagen, dass unsere Rehabilitationszentren voll ausgelastet sind. Für Sologubovka gibt es sogar eine Warteschlange, weil dieses Zentrum ausschließlich alleinstehende, mittellose Personen ohne jegliche Angehörige, die sie unterstützen könnten, aufnimmt. Die Patienten in Poschitni haben dagegen meist Menschen, die zu Hause auf sie warten.

Unsere Patienten kommen aus den verschiedensten Regionen Russlands und nicht nur aus St. Petersburg. Wir betreuten vor kurzem sogar einen jungen Mann serbischer Abstammung aus Südafrika. Sein Vater war während des Kriegs in den 1990er Jahren von Serbien nach Südafrika ausgewandert. Als sein Sohn den Drogen verfiel, wandte er sich als Orthodoxer an einen ihm bekannten Priester in Moskau mit der Bitte um Hilfe. Über die Moskauer Kirchenverwaltung wurden wir gebeten, den jungen Mann aufzunehmen. Wir taten dies, obwohl es für uns eine große Herausforderung war: Der Mann sprach und verstand nämlich kein Wort russisch. Wir mussten drei unser ehemaligen Therapiepatienten mit Englischkenntnissen aufbieten, die für ihn in Poschitni abwechslungsweise in 14-Tage-Schichten rund um die Uhr übersetzten. Nach sechs Monaten musste der junge Mann nach Hause zurückkehren, weil sein Visum auslief. Sein Vater war fast erschrocken, wie er selbst berichtete, über den positiven Wandel, den sein Sohn in dieser kurzen Zeit durchgemacht hatte. Der Sohn will nach Erhalt eines neuen Visums unbedingt zu uns zurückkehren, um die zweite Hälfte der Therapie zu absolvieren.

Es fällt auf, wie intensiv Sie den weiteren Kontakt Ihrer ehemaligen Patienten untereinander fördern und zahlreiche Exkursionen und Begegnungen für sie organisieren. Wieso?
Unsere ehemaligen Patienten besuchen nach der Therapie nicht nur die Gesprächsgruppen der anonymen Drogenkranken, wir laden sie in der Tat auch zu verschiedenen Treffen und Anlässen ein. Diese Begegnungen sind nicht nur wichtig, um eine gegenseitige Unterstützung der Ehemaligen untereinander zu fördern. Vielmehr geht es auch darum, ihnen zu zeigen, dass zu einem erfüllten und würdigen Leben kulturelle Aktivitäten dazugehören. So besuchen wir zusammen Museen, Konzerte, Ausstellungen und unternehmen Exkursionen. Dieses Jahr führte unsere Wallfahrt zum Tag der Taufe Christi im Januar nach Vyrizy, nicht sehr weit von St. Petersburg entfernt, wo der hl. Serafim, dem das Zentrum in Poschitni geweiht ist, gelebt hat und 1949 gestorben ist. Die gleichnamige Bruderschaft, der viele unserer ehemaligen Patienten angehören, hat nun schon das dritte Mal diese Wallfahrt organisiert, an der dieses Jahr 60 Ehemalige mit ihren Familien teilnahmen.

Im November letzten Jahres waren wir zudem eingeladen, unseren jährlichen Ehemaligentag in der Geistlichen Akademie von St. Petersburg abzuhalten. Neben den rund 200 Ehemaligen, ihren Familienmitgliedern und den Drogenpatienten aus Sologubovka und St. Petersburg waren auch Dozenten und Studenten anwesend. Als der Rektor, Bischof Amvrosij (Jermakov) von Gatčina, unser Treffen bewilligte, gab es in der Akademie besorgte Stimmen, die vor einer Störung der Ruhe und der Würde dieses Ortes durch unser buntes Publikum warnten. Als der Abend dann aber wie immer interessant und gut verlief, legte sich nicht nur die Besorgnis dieser Menschen, sondern wir gewannen unter ihnen sogar neue Freunde.

Neben der Arbeit im Therapiebereich beschäftigen Sie sich aber auch mit dem wichtigen Thema Prävention und Information?
Ja, das ist richtig. Im Auftrag des Kirchlichen Außenamtes haben wir für zwei Altersstufen Präventionsprogramme ausgearbeitet. Sie beinhalten Rollenspiele, die es Kindern und älteren Jugendlichen erleichtern sollen, in konkreten Lebenssituationen von sich aus bewusste und vernünftige Entscheide zu treffen – gerade auch hinsichtlich der Gefahr von Drogen, HIV und anderen Infektionskrankheiten. In den Rollenspielen werden sich die Kinder der Bedeutung von Begriffen wie Freiheit, Kultur, Freundschaft, Ehrlichkeit, Fairness bewusst, bei den älteren Jugendlichen kommen Begriffe wie Liebe und Sinn des Lebens hinzu. Diese Programme finden in Schulen, Colleges und Hochschulen großen Anklang, weil sie als interessant wahrgenommen werden und einen offenen Dialog über existentielle Probleme der jungen Generation erlauben.

Zudem haben wir 2012 auch den sog. „Autobus der Barmherzigkeit“ ins Leben gerufen. Dieses neue Projekt richtet sich an Obdachlose und Drogenabhängige auf der Straße, die von uns verschiedenartige Hilfe erfahren. So versorgen wir täglich ca. 30 bis 50 Personen mit warmen Mahlzeiten und Kleidung, gleichzeitig bieten wir ihnen auch die Möglichkeit an, sich auf HIV, Tuberkulose und andere Krankheit untersuchen zu lassen. Wir arbeiten dabei mit den Krankenhäusern zusammen. In den letzten Monaten ist es uns gelungen, zwölf HIV-Fälle aufzudecken.

Was ist Ihnen noch wichtig an Ihrer Arbeit?
Ich freue mich, sagen zu dürfen, dass unsere Organisation heute über einen Mitarbeiterstab verfügt, der seine Arbeit interessant und sinnvoll findet und sich voll dafür einsetzt. Dank der vielen Ehemaligen kann er auch große Belastungen aushalten, was in dieser Zeit, da der Druck auf die nicht-staatlichen Organisationen im Lande sowohl generell als auch in finanzieller Hinsicht zunimmt, eminent wichtig ist. Ich möchte auch betonen, dass wir G2W für die Unterstützung in dieser schwierigen Situation außerordentlich dankbar sind, denn sie ist für uns lebenswichtig.

Kraft verleiht uns in unserer Arbeit auch die Tatsache, dass unsere ehemaligen Drogenpatienten je länger je mehr beginnen, wie eine große, in Freundschaft verbundene Familie zu funktionieren, die Freude und Leid teilt. Letzten November hat uns die Mutter eines Ehemaligen mitgeteilt, dass ihr Sohn unheilbar krank und am Sterben sei. Sofort organisierten unsere Ehemaligen Besuche und beim Treffen in der Akademie eine Geldsammelaktion. Am Tag nach diesem Treffen verstarb der junge Mann, Vater von zwei kleinen Kindern. Wir konnten seiner Mutter nicht nur einen ansehnlichen Unterstützungsbeitrag übergeben, sondern der ganzen Familie das Gefühl vermitteln, in ihrem Kummer nicht allein, sondern von Freunden getragen zu sein.

pdfRGOW 3/2013, S. 28-29

Bild: Fonds Diakonia