Skip to main content

Fonds „Diakonia“ – ein Kompetenzzentrum für Suchthilfe in Russland

Regula Spalinger im Gespräch mit Elena Rydalevskaja

Der ökumenische Fonds „Diakonia“ aus St. Petersburg leistet Pionierarbeit bei der Drogenrehabilitation und Suchtprävention in Russland. Auch auf dem Gebiet der Weiterbildung nimmt der Fonds eine Vorreiterrolle ein, so hat „Diakonia“ ein zertifiziertes Ausbildungszentrum eingerichtet, das allen in der Drogenrehabilitation tätigen Fachleuten offen steht. Bei den Rehabilitanden wird „Diakonia“ in Zukunft einen stärkeren Akzent auf die Übernahme einer verantwortungsvollen Vaterrolle legen.

G2W: Der Fonds „Diakonia“ kann auf eine mehr als 10-jährige Tätigkeit zurückblicken. Wie sehr hat sich die Arbeit Ihrer NGO seit der Gründung 2008 verändert?
Elena Rydalevskaja
: 2008 feierten wir das Jahresende in einem beinahe familiären Rahmen mit rund 50 Personen. Dazu zählten ehemalige Drogenabhängige, die unser Rehabilitationsprogramm abgeschlossen hatten, Mitarbeitende sowie weitere Helfer. Ein zentraler Bereich unserer Tätigkeit ist bis heute die Obdachlosenhilfe mit warmen Mahlzeiten, Kleidung und einem niederschwelligen Beratungsangebot (u. a. professionelle HIV-Tests in unserem „Bus der Barmherzigkeit“). Zu unserem Rehabilitationszentrum in Poschitni in der Region Pskov kam 2012 das zweite Therapiezentrum für Drogen- und Alkoholabhängige im Dorf Sologubovka, 50 km von St. Petersburg entfernt. Die hier mit Unterstützung vieler ehemaliger Rehabilitanden in lokaler Holzbaukunst entstandenen Räumlichkeiten erlaubten es uns, drei Jahre später einen weiteren wichtigen Schritt zu realisieren: die Eröffnung eines Kurs- und Weiterbildungszentrums in Sologubovka. Dieses steht allen in der Drogenrehabilitation wirkenden Fachleuten offen, unabhängig davon, ob sie in NGOs, staatlichen oder kirchlichen Einrichtungen tätig sind. Als akkreditiertes Ausbildungszentrum des St. Petersburger Komitees für Sozialpolitik können wir u. a. Lehrgänge mit Zertifikatsabschluss anbieten. „Diakonia“ war eine der ersten NGOs Russlands, die ein mehrstufiges, professionell abgestütztes Programm zur Drogen­rehabilitation aufgebaut hat. Der Vorsteher unseres Weiterbildungszentrums, der Psychologe und Familientherapeut Nikolaj Ekimov, und ich sind heute regelmäßig auch in weit entfernten Regionen als Ausbildende tätig, beispielsweise in Kaliningrad, Sibirien oder auf Sachalin.

Wie viele Personen absolvieren jährlich eines Ihrer Programme?
In der Aus- und Weiterbildung von Drogentherapeuten und weiteren Fachleuten haben wir bis Mitte 2019 bereits 310 Personen geschult, bis Ende Jahr werden weitere Seminare hinzukommen. Die Ausbildungen finden einerseits in unserem Weiterbildungszentrum in Sologubovka statt. Andererseits bieten wir auf Einladung lokaler Behörden und Zentren in den drei sibirischen Städten Tomsk, Krasnojarsk und Tjumen sowie in Pskov, St. Petersburg, Kamensk-Uralskij (eine Großstadt im Uralgebiet) und in Novgorod Fortbildungen an. Die Rehabilitation in unseren beiden Zentren und die darauf folgende begleitete soziale Adaption in St. Petersburg durchlaufen jährlich rund 220 Personen. Von denen, die den Kurs abgeschlossen haben, bleiben gemäß weitergeführtem Monitoring 60 Prozent nüchtern und sind erfolgreich in Arbeitswelt und Gesellschaft integriert. 40 Prozent schließen auf eigenen Wunsch das Programm nicht komplett ab oder wurden in Einzelfällen ausgeschlossen.

Seit zwei Jahren unterstützt Diakonia auch bedürftige Familien. Wie kam es dazu?
Da wir seit langem den Obdachlosen unserer Stadt mit praktischen Hilfsangeboten zur Seite stehen und ein wichtiger Teil des Rehabilitationsprogramms für Suchtkranke die Arbeit mit deren Familien ist, wandte sich die Eparchie St. Petersburg Ende 2017 mit der Bitte an uns, eine wohltätige Koordinationsstelle für Familien in schwierigen Lebenssituationen zu leiten. Wir haben diese Herausforderung angenommen. Die wirtschaftliche Lage ist in Russland in den letzten Jahren schwieriger geworden, und insbesondere Familien mit mehreren Kindern geraten trotz Berufstätigkeit der Eltern (bzw. des alleinerziehenden Elternteils) häufiger als früher unter die Armutsgrenze. Oft wird die Bedürftigkeit durch einen Schicksalsschlag in der Familie ausgelöst. Eine beratende Begleitung ist in diesen Fällen besonders wichtig, damit die Familie wieder Stabilität gewinnen kann. Im Jahr 2018 gaben wir 22‘580 warme Mahlzeiten aus und konnten insgesamt über 900 Personen beraten. Die Eparchie unterstützt uns in verschiedenen Belangen, u. a. dadurch, dass sie ein Büro und Lager zur Verfügung gestellt hat. Unter unserer Leitung können nun Rehabilitanden in der Abschlussphase ihres Programms gemeinsam mit freiwilligen Helfern unverderbliche Lebensmittel zu Hilfspaketen abpacken und an Bedürftige übergeben. Die Lebensmittel sowie Kleider und Schuhe erhalten wir von lokalen Unternehmen als Spenden. In den letzten beiden Jahren konnte „Diakonia“ bereits viele Familien in schwieriger Lebenslage über die neu geschaffene Koordinationsstelle unterstützen.

Welche Neuerungen gibt es im Rehabilitationsprogramm?
In unmittelbarer Nähe zu unserem Büro konnten wir von der Stadt einen leerstehenden Raum übernehmen, den wir mit Hilfe sozialer Kleinunternehmer bald zu renovieren hoffen. Dort möchten wir unter dem Namen „Areal der Freude“ ein Projekt realisieren, das sowohl Familien in schwierigen Lebenslagen als auch den Rehabilitanden zugutekommt. Einen Akzent bei den Freizeitaktivitäten und Kursen möchten wir dabei auf die Übernahme einer verantwortungsvollen Vaterrolle legen. Unsere Rehabilitanden haben selbst diesen Wunsch geäußert, da sehr viele von ihnen in der Kindheit kein positives Vorbild erlebten. Entweder weil der Vater in der Familie fehlte oder Alkoholiker war. Die Rehabilitanden wünschen sich nach Abschluss der Rehabilitation einen Ort, wo sie mit der ganzen Familie oder auch allein mit den Kindern hinkommen könnten. Momentan entwickeln wir solch ein Angebot, bei dem das Zusammenleben und die Kommunikation in der Familie durch gemeinsame Unternehmungen gestärkt werden.

Auch in den beiden Rehabilitationszentren sind Veränderungen im Gang. Welches sind die wichtigsten?
In Poschitni konnten wir dieses Frühjahr die Umbauarbeiten am Hauptgebäude abschließen. Neben Facharbeitern waren die Rehabilitanden vor Ort beteiligt. Sie sind zu Recht stolz auf die funktionalen Innenräume und das schöne neue Gesamtbild, zu dem auch die Kuppel der kleinen Hauskirche im oberen Stock gehört. Vorarbeiter, Planer und Haupteinkäufer für Baumaterialien war ein ehemaliger Rehabilitand, der in der Bauwirtschaft arbeitet. Er engagierte sich ungemein, um eine qualitativ hochwertige, doch möglichst kostengünstige Abwicklung des Umbaus zu erreichen. Es war ihm ein Anliegen, sich auf diese Art für sein heutiges Leben zu bedanken. Aktuell wird unter seiner Leitung ein Nebengebäude errichtet, in dem künftig u. a. eine Werkstatt Platz finden soll. Ebenso wichtig ist die Renovierung eines unserer Häuser, um dort Gästeräume für Angehörige und Besucher anbieten zu können. Denn bisher mussten alle Gäste leider in kostenpflichtigen Herbergen des benachbarten Städtchens Puschkinskije Gory übernachten.

Für die Rehabilitanden ist es wichtig, bereits in den Zentren erste Schritte zur Reintegration ins Berufsleben zu unternehmen. Ab dem 1. September 2019 werden wir daher in Sologubovka eine Veränderung im Reha-Konzept einführen. Verschiedene St. Petersburger Berufsbildungszentren bieten Fernlehrgänge, z. B. zum Elektriker oder Montagearbeiter an. Die theoretische Ausbildung werden wir in Zusammenarbeit mit diesen Zentren neu in die Rehabilitation eingliedern. Als zweite Etappe folgt während der sozialen Adaption in St. Petersburg dann der entsprechende Praktikumsteil. Selbstverständlich bleiben neben Einzel- und Gruppenarbeit mit psychotherapeutischer Begleitung auch die Einsatzmöglichkeiten in der angegliederten Landwirtschaft erhalten. Nicht zuletzt ist auch das Mitwirken in Küche und Haushalt der Zentren eine gute Vorbereitung auf den späteren selbständigen Lebensalltag. Mit wie viel Kreativität das verbunden sein kann, erlebten wir alle diesen Sommer während zwei Koch-Masterclasses mit Viktoria Tarasenko, einer russischen Kochkünstlerin, die seit langem in Italien lebt. Die Köchin weihte die Rehabilitanden in die professionelle Zubereitung von Pasta und Lasagne ein. Für alle Beteiligten waren diese Anlässe ein einmaliges Erlebnis, und das gemeinsame Kosten der selbst hergestellten Pasta ein Gedicht!

pdfRGOW 10/2019, S. 28-29

Bild: Fonds Diakonia