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Russland: Gerichtliche Auseinandersetzung um die Schneerson-Sammlung

23. November 2010
Der Streit um die berühmte Schneerson- Sammlung zwischen der Chabad- Bewegung, einer chassidischen Gruppe innerhalb des orthodoxen Judentums, und dem russischen Staat geht in eine neue Runde.

Das russische Außenministerium wies am 11. August ein Urteil des Bezirksgerichts in Washington zurück, das eine Übergabe der Sammlung an Chabad anordete: «Für jeden Juristen ist klar erkennbar, dass der Urteilsspruch rechtlich hinfällig ist und einen groben Verstoß gegen die Normen und Prinzipien des internationalen Rechts darstellt.» Eine Übergabe an Chabad käme nicht in Frage.

Chabad hatte vor dem Washingtoner Bezirksgericht geklagt und das Gericht hatte Ende Juli entschieden, dass der russische Staat alle «religiösen Bücher, Manuskripte, Dokumente und andere Gegenstände », die zur Schneerson-Sammlung gehören, der Organisation Chabad aushändigen müsse. Sämtliche Kosten habe der Beschuldigte zu tragen.

Der Gegenstand des Streits, die Schneerson- Sammlung, geht im Wesentlichen auf Rabbiner Yosef Yitzchak Schneersohn (*1880 in Ljubawitsch, Ukraine, † 1950 in New York), dem sechsten Ljubawitscher Rebbe und Oberhaupt der Ljubavitscher Chassiden, zurück. Die Sammlung umfasst ca. 12 000 Bücher, 50 000 andere Dokumente und 381 Manuskripte, darunter einzigartige handschriftliche Aufzeichnung des dritten Ljubavitscher Rebben, Menachem Mendel Schneersohn (1789–1866). Während des Ersten Weltkriegs floh Rabbi Yosef Yitzchak Schneersohn mit seiner Familie 1915 von Ljubavitsch nach Rostov. Einen Teil seiner Bibliothek übergab er dem Bücherdepot von Persitz & Poljakov in Moskau zur Aufbewahrung. Dieses Depot wurde 1919 verstaatlicht und der Staatlichen Lenin-Bibliothek (der heutigen Russischen Staatsbibliothek) eingegliedert. Rebbe Schneersohn wurde 1927 verhaftet und zunächst zum Tod, dann zur Verbannung verurteilt und schließlich auf internationalen Druck ausgebürgert. Der Rebbe zog zuerst nach Lettland, 1934 nach Polen, 1939 gelang ihm die Flucht in die USA; dort ließ er sich in Brooklyn nieder, wo sich noch heute das Zentrum der Chabad- Ljubawitsch-Bewegung befindet. Den zweiten Teil seiner Bibliothek brachten die Nationalsozialisten 1939 nach Deutschland, dort fiel dieser 1945 der Roten Armee in die Hände, die ihn nach Moskau ins Staatliche Archiv der Roten Armee brachte (heute Russisches Staatliches Militärarchiv).

1950 starb Rebbe Schneersohn, ohne verfügt zu haben, was mit seiner Bibliothek geschehen solle. Seit den 1990er Jahren fordert Chabad die Rückgabe der Sammlung. Die Organisation ist heute eine der größten chassidischen Vereinigungen weltweit und versteht sich als rechtmäßige Nachfolgerin des kinderlosen sechsten Rebbes. Der damalige Leiter der Chabad und Schwiegersohn von Rabbi Yosef Yitzchak Schneersohn, der Siebte Rebbe Menachem Mendel Schneerson (1902–1994), klagte auf Rückgabe. Das höchste Schiedsgericht Russlands gab der Klage im Oktober 1991 statt und verpflichtete die Lenin- Bibliothek zur Rückgabe. Als diese sich weigerte, verfügten Boris Jelzin und die damalige russische Regierung im Januar 1992 die Rückgabe, doch auf Druck der Öffentlichkeit revidierte das Schiedsgericht sein Urteil und die Sammlung verblieb in Russland. – 2004 kam die Angelegenheit in den USA vor Gericht. Nach einer einstweiligen Verfügung der Übergabe stieg Russland 2009 aus dem Prozess aus. Daraufhin urteilte der Washingtoner Richter Royce C. Lamberth Ende Juli 2010 im Sinne des Klägers.

Sowohl die einstweilige Verfügung als auch das Urteil hat Russland mit der Begründung zurückgewiesen, dass Staaten juristisch immun seien. Kein Richter könne ein Urteil gegen einen Staat sprechen, wenn dieser dem Prozess nicht zustimme. Außerdem führte das russische Außenministerium an, dass die Schneerson-Sammlung niemals der amerikanischen Organisation Chabad gehört, noch jemals russisches Hoheitsgebiet verlassen habe. Sie sei verstaatlicht worden, da es in der Familie Schneerson keine recht-mäßigen Erben gegeben habe. Die russische Regierung betrachte die Sammlung als Teil des kulturellen Erbes des multinationalen russischen Volkes, zu dem auch die Bürger jüdischen Glaubens zählten. – Aus amerikanischer Sicht ist dagegen das Urteil einwandfrei. Der «U.S. Foreign Sovereign Immunities Act» ermöglicht es, gegen einen fremden Staat zu prozessieren, wenn dieser Eigentum eingezogen und dabei gegen internationales Recht verstoßen hat. Richter Lamberth sah dies in seinem Urteil als gegeben an.

Oberrabbiner Adolf Schajevitsch, Leiter einer der beiden großen jüdischen Vereinigungen Russlands, des Kongresses Jüdischer Religiöser Gemeinden, sprach sich für eine Übergabe der Sammlung aus. Oberrabbiner Berl Lazar dagegen, der Leiter der zweiten jüdischen Vereinigung, der Föderation Jüdischer Gemeinden Russlands (FEOR), enthielt sich jedes Kommentars. Gegenüber der Zeitung «Nezavisimaja gazeta» erklärte der Präsident der FEOR, Alexander Boroda, die FEOR sei in diesem Fall strikt neutral; sie sei nicht mit der amerikanischen «Agudas Chasidej Chabad» verbunden, auch wenn die meisten Gemeinden der FEOR zu den Ljubavitscher Chassidim zählten. Der Leiter des rabbinischen Gerichts Russlands, Pinchas Goldschmidt, sagte, die Streitfrage sei eine politische Angelegenheit, die unmöglich auf dem Gerichtsweg entschieden werden könne.

www.religion.ng.ru, 18. August; www.juedische-allgemeine.de, 8. September 2010 – O.S.

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