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Litauen: Katholische Kirche verweigert Aufbahrung von Brazauskas in der Kathedrale von Vilnius

16. September 2010

Die Trauerfeier für den verstorbenen früheren litauischen Staatspräsidenten Algirdas Brazauskas am 1. Juli ist von einem kontroversen Entscheid der römisch- katholischen Kirche des Landes überschattet worden. Die Kirchenführung lehnte es ab, seinen Sarg in der Kathedrale von Vilnius aufzubahren, ohne allerdings konkrete Gründe dafür zu nennen.

Erzbischof Sigitas Tamkevicius von Kaunas, früher Vorsitzender der Litauischen Bischofskonferenz, verteidigte den Entscheid der Kirchenführung: Wer den Wegen der Kirche nicht folge, könne auch im Tod keine Belohnung erwarten. Es gehe nicht an, dass «Leute, die reich und machtvoll sterben», glaubten, sie könnten «im Konkubinat leben, Kommunisten sein und keine Reue zeigen, und die Kirche werde sie dennoch bedienen». Der Erzbischof spielte mit seinen Äußerungen offenkundig auf die zweite Ehe von Brazauskas nach der Scheidung seiner ersten Ehe an.

Laut politischen Beobachtern dürfte die zweite Ehe ohne kirchliche Trauung allerdings nur ein vorgeschobener oder zweitrangiger Grund gewesen sein. Vielmehr täten sich bestimmte Vertreter der katholischen Kirche, die in kommunistischer Zeit unter Verfolgungen zu leiden gehabt hätten, mit Brazauskas Karriere im Sowjetsystem schwer. Dieser war nach Abschluss seines Ingenieurstudiums 1956 in verschiedenen Funktionen für die Kommunistische Partei und für die Regierung der Litauischen SSR tätig. Im Oktober 1988 wurde er zum Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei Litauens gewählt, die er jedoch im Dezember 1989 aus der KPdSU löste und zur Litauischen Demokratischen Arbeiterpartei umwandelte – damit bereitete er dem Mehrparteiensystem und der Unabhängigkeit des Landes den Weg. Eine seiner ersten Amtshandlungen als Erster Sekretär 1988 war die Rückgabe der Kathedrale von Vilnius an die katholische Kirche, die in sowjetischer Zeit als Bildergalerie gedient hatte. 1989 führte Brazauskas Litauisch wieder als Amtssprache ein. Von 1993 bis 1998 war er Präsident des Landes und von 2001 bis 2006 amtete er als Premierminister. Brazauskas hatte stets erklärt, er sei «zuerst Litauer und dann Kommunist».

Dennoch sprach sich die katholische Kirche gegen eine Aufbahrung des Sarges in der Kathedrale aus. Der Sarg musste im Präsidentenpalast bleiben, während der Erzbischof von Vilnius, Audrys Kardinal Backis, in der Kathedrale die SeeVerlenmesse für den Verstorbenen feierte. Die jetzige litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė blieb der Seelenmesse in der Kathedrale von Vilnius fern und reiste stattdessen in die Kleinstadt Kaisiadorys, wo Brazauskas als Ingenieur gearbeitet und ein starkes Heimatgefühl entwickelt hatte. Bei der Bestattungszeremonie auf dem Friedhof in der litauischen Hauptstadt würdigte Grybauskaitė den Verstorbenen als integre Persönlichkeit. Deshalb habe er das Vertrauen der Bevölkerung erworben und sei als Mann des Volkes empfunden worden.

Dass Kardinal Backis, der Vorsitzende der Litauischen Bischofskonferenz, den Trauergottesdienst hielt, interpretierte Erzbischof Tamkevicius dagegen als Zeichen des Respekts – und dass «alle Sünden vergeben» werden können.

Tamkevicius war einer der Symbolgestalten der katholischen Widerstandsbewegung in Litauen: Er war Mitbegründer des Komitees zur Verteidigung der Rechte für die Gläubigen und begann 1972 mit der Herausgabe der «Chronik der katholischen Kirche in Litauen», weshalb er jahrelang verfolgt wurde und fünf Jahre inhaftiert war.

NZZ, 2. Juli; www.tagblatt.de, 3. Juli 2010 – O.S.

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