Corona-Krise trifft vor allem die sozial Schwachen in Russland

Regula Spalinger

Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens aufgrund der Corona-Pandemie treffen vor allem die sozial Schwachen in Russland hart. Drei Projektpartner von G2W berichten von ihrem Einsatz für Obdachlose, Suchtkranke, Witwen und straffällig gewordene Jugendliche. Mit Lebensmittelhilfe, verstärkter Online-Präsenz und weiteren Maßnahmen begegnen sie den Herausforderungen durch die Corona-Krise.

 Am 23. März 2020 verzeichnete Russland lediglich 438 bestätigte Covid-19-Fälle und noch keinen Todesfall. Die tiefen Zahlen lagen nicht zuletzt an den Erhebungsmethoden. Bis zu diesem Zeitpunkt war für die definitive Bestätigung von Verdachtsfällen einzig das staatliche Virologie-Forschungszentrum „Vektor“ in Novosibirsk zuständig. Dieses liegt vier Flugstunden von Moskau entfernt. Ab dem 23. März erteilte die Zentralbehörde Rosbotrebnadzor weiteren staatlichen sowie privaten Labors die Erlaubnis Tests durchzuführen. Anfang Mai haben sich über 110 000 Menschen mit Covid-19 infiziert, und Russland ist nun weltweit das Land mit den achthöchsten Fallzahlen. Insbesondere in den Metropolen Moskau, St. Petersburg sowie dem Moskauer Gebiet ist die Zahl der Infizierten seit Anfang April stark angestiegen.
Die meisten Projektpartner von G2W sind in St. Petersburg aktiv. In der sonst pulsierenden Millionenstadt an der Neva sind die Straßen derzeit fast menschenleer. Verstöße gegen die Quarantäne-Regelungen, z. B. eine Fahrt zur Arbeit ohne Sonderbewilligung des Betriebs, werden durch die Polizei mit hohen Geldstrafen gebüßt. Während der „arbeitsfreien“ Wochen (so die offizielle Sprachregelung) sind einzig lebensnotwendige Geschäfte wie Lebensmittelläden, Apotheken, Banken, Post und Tankstellen geöffnet. Auch der öffentliche Verkehr in St. Petersburg ist stark eingeschränkt, da neun Metrostationen komplett geschlossen wurden. Über-65-Jährigen ist das Verlassen ihrer Wohnung zurzeit ganz untersagt.

Unterstützung von Risikogruppen
Der Wohltätigkeitsfonds „Diakonia“ in St. Petersburg betreut mit seinen Programmen Obdachlose und Suchtkranke – zwei Risikogruppen in Bezug auf Covid-19. Diese finden zu normalen Zeiten in der Gassenküche des Fonds eine niederschwellige Anlaufstelle. Integriert in das Angebot sind auch soziale und medizinische Erstberatungen. So können kostenlos anonyme HIV-Tests im Bus der NGO durchgeführt werden. Laut Anordnung der St. Petersburger Stadtregierung dürfen Obdachlose während der Quarantäne ihre von der Stadt zur Verfügung gestellten Unterkünfte nicht verlassen. In den Obdachlosenheimen ist jedoch keine Verpflegung vorgesehen. Daher bringt „Diakonia“ nun abends warme Mahlzeiten zu den Notschlafstellen und verteilt sie vor Ort. Mitarbeitende des Fonds, die sonst in der Gassenarbeit tätig sind, leisten zudem Lebensmittelhilfe an akut Armutsbetroffene. Dazu zählen insbesondere kinderreiche Familien, alleinstehende, ältere Menschen sowie körperlich beeinträchtigte Personen, die nicht über ein familiäres oder anderes Auffangnetz verfügen.
Die größte Herausforderung für die Leiterin Elena Rydalevskaja und Programmdirektor Igor Piskarev, beide ausgebildete Drogenfachärzte, stellt zurzeit die Risikominimierung in den eigenen Rehabilitationszentren für Suchtkranke dar. „Meine größte Sorge ist, dass in eines unserer Zentren oder ins St. Petersburger Wohnhaus für Soziale Adaption das Coronavirus eingeschleppt wird. Eine Epidemie unter den Bewohnern wäre außerordentlich schwer zu bewältigen“, fügt Rydalevskaja an. „Diakonia“ achtet daher auf die Einhaltung strengster Hygienevorschriften. Neben regelmäßiger Desinfektion der Räume wurden zusätzlich UV-Luftreiniger installiert. Bis zum Ende der Corona-Maßnahmen arbeiten die Rehabilitanden nur noch auf dem eigenen Gelände. Eine Gruppe näht nun auch Gesichtsmasken. Der Unternehmer A. Pimaschin, Leiter eines Werkzeughandels und Mitglied des Stiftungsrats von „Diakonia“, stellte kurzerhand elf Nähmaschinen aus seinem Lager zur Verfügung und ist um den Verkauf der Gesichtsmasken besorgt. Im April konnten bereits über 900 Masken hergestellt werden. Die Rehabilitanden, die sonst tagsüber auf dem Bau oder an anderen Arbeitsstellen arbeiten würden, helfen so mit, die Kosten von „Diakonia“ zu decken. Dies wird auch in Zukunft wichtig sein, denn während der vergangenen Wochen ist die Arbeitslosigkeit in St. Petersburg stark gestiegen.

Witwenhilfe verstärkt Online-Präsenz
Insbesondere alleinerziehende Frauen sind von Arbeitslosigkeit bedroht, wie die beiden Leiterinnen des Wohltätigkeitsfonds „Mit Rat und Tat“, Elena Lepeschonok und Alexandra Starostenko, berichten. „Mit Rat und Tat“ ist die erste russische NGO, die Witwen und deren Kindern unterstützt. Staatliche Witwenrenten sind in Russland nicht existenzsichernd. Dadurch sind praktisch alle betroffenen Frauen, auch jene mit Kindern, gezwungen, eine – in der Regel tief entlohnte – Arbeit anzunehmen. Außerdem kennt Russland bisher keine soziale, juristische oder psychologische Fachberatung für Hinterbliebene. Daher begannen die beiden Gründerinnen mit viel Aufopferungswillen und einem kleinen Team aus Spezialisten diese Lücke zu schließen. Mittlerweile erhalten sie aus allen Landesteilen Anfragen zu ihrer Arbeit. „Mit Rat und Tat“ möchte daher ein landesweites Witwen-Solidaritätsnetzwerk mit einer Online-Plattform aufbauen. Außerdem ist eine Ratgeberbroschüre für Witwen, deren Angehörige sowie Fachpersonen geplant (s. RGOW 4/2020, S. 28–29).
Die Corona-Krise verlangt nun von „Mit Rat und Tat“ viele herausfordernde Umstellungen. Beratungsgespräche finden derzeit nur virtuell statt. Und dank der Zusammenarbeit mit dem Fonds „Diakonia“ können jene Witwen, die mit ihren Kindern in prekären Verhältnissen leben, weiter mit Lebensmitteln versorgt werden. Doch machen sich die beiden Leiterinnen große Sorgen um die künftige Finanzierung der Beratungsdienste. Für die Witwen sind diese kostenlos, da sie sich eine Bezahlung nicht leisten können. Viele Frauen, die als Kindermädchen arbeiten, bei einem kleineren oder mittleren Betrieb angestellt sind oder selbst ein kleines Geschäft eröffnet haben, sind nun während des Lockdowns ganz ohne Einkommen. Der Staat hilft ihnen nicht. Zwar verpflichtet die Regierung Arbeitgeber in zahnlosen Anweisungen zur Lohnfortzahlung, unterstützt jedoch mit direkter Finanzhilfe nur größere Staatsbetriebe. Viele der von „Mit Rat und Tat“ betreuten Witwen wissen gegenwärtig nicht, wie sie die nächste Miete, Lebensmittel oder eine fällige Kreditrate bezahlen sollen. Neben den meisten Betrieben sind auch die Kindergärten und Schulen geschlossen. Eine Witwe, die als Lehrerin arbeitet, ist gegenwärtig fast Tag und Nacht beschäftigt. Denn sie hat ihre ganze Klasse tagsüber im Fernunterricht zu betreuen. Zwischendurch kocht sie und muss allein nach ihren eigenen Kindern schauen. Die Selbsthilfegruppen des Fonds, in denen die Frauen Kraft tanken, fehlen in dieser unsicheren Zeit ganz besonders.

Quarantäne 180km von St. Petersburg entfernt
In der orthodoxen Kirchgemeinde des Dorfes Nadkopanje am Ladogasee befinden sich derzeit die Jugendlichen aus dem stationären Programm des Basilius-Zentrums mit ihren Betreuern. Die 15- bis 18-Jährigen helfen dem Vorsteher der Kirchgemeinde bei verschiedenen Arbeiten. Das St. Petersburger Basilius-Zentrum ist die einzige russische Einrichtung, die eine professionelle mehrstufige Rehabilitation für Jugendliche mit bedingten Haftstrafen anbietet. Über 85 Prozent der Jugendlichen werden nach ihrer Rehabilitation nicht wieder straffällig. Im Dorf Nadkopanje sind die Jugendlichen, weil sich hier die Quarantäne sinnvoller und mit weniger Ansteckungsrisiko als in St. Petersburg durchführen lässt. Vormittags erledigen die Jugendlichen praktische Arbeiten in Landwirtschaft und Küche. Neben den Betreuern steht auch eine psychologische Fachperson zur Seite. Die zweite Tageshälfte ist dem Unterricht gewidmet, der im Moment meist im Online-Modus stattfindet.
Die Mädchen und Jungen der ambulanten Therapie müssen ihre „Selbstisolation“ gemäß den Vorgaben der Behörden in der eigenen Familie absolvieren. Anastasija Tichonova, die Leiterin der ambulanten Abteilung des Basilius-Zentrums, steht mit einigen Jugendlichen in Kontakt und unterstützt sie mit weiteren Aufgabenhelfern beim Fernunterricht. Ein paar der betreuten Jugendlichen sind jedoch von zuhause weggerannt und auch auf dem Handy nicht mehr erreichbar. Die Eltern machen sich große Sorgen und berichten, dass es den Kindern ohne feste Tagestruktur und professionelle Betreuung besonders schwerfiel, sich auf etwas zu konzentrieren.
Auch das soziale Café des Basilius-Zentrums, das erste seiner Art in St. Petersburg, musste vorübergehend schließen. Fast täglich finden dort zu normalen Zeiten verschiedene Trainings und kulturelle Veranstaltungen statt. Der Ort ist zu einem Anziehungspunkt für die Bevölkerung geworden. Den Mitarbeitenden bietet sich so die Gelegenheit, im Austausch mit Interessierten von der einzigartigen Erfahrung ihrer Einrichtung zu berichten. Während des Lockdowns arbeitet ein Teil des Personals von zuhause aus, für einen weiteren Teil musste das Arbeitspensum reduziert werden. Laut der Projektkoordinatorin Anna Vendelovskaja schätzen russische Experten, dass durch die vielen notgedrungenen Entlassungen schon bald 20 Prozent der Erwerbstätigen in Russland von Arbeitslosigkeit betroffen sein könnten. Die Jungen und Mädchen des Basilius-Zentrums kommen vor allem aus sozial schwachen Familien. Jugendlichen eine zweite Chance zu geben, ist das Ziel des Basilius-Zentrums. Seine Arbeit wird in nächster Zukunft noch stärker als bisher gebraucht werden.

Regula Spalinger, Projektverantwortliche des Instituts G2W.

Sie können die Projektarbeit des Instituts G2W mit einer Spende auf das Konto des Instituts G2W (IBAN CH22 0900 0000 8001 51780) mit dem Vermerk „Corona – Russland“ unterstützen.

pdfRGOW 5/2020, S. 18-19

 Bild: Eine Gruppe von Rehabilitanden des Fonds "Diakonia" näht Schutzmasken. (Diakonia)